Wenn man sich für lebendige Traditionen und darüber hinaus für anspruchsvolle Musik- und Tanzformen interessiert, ist Bulgarien im direkten und übertragenen Sinne ein sehr reizvolles Reiseziel. Man kann die Vielfalt der Folklore dieses Balkanstaates sowohl durch einen Besuch in Bulgarien als auch durch verschiedene Medien im eigenen Lande kennen lernen. Meines Erachtens ist die Teilnahme an Musik- und Tanzworkshops, Sommerseminaren und Festen bzw. das Verstehen durch den eigenen Körper eine der besten Möglichkeiten, sich der bulgarischen Kultur und den Bedeutungen, die sie trägt, zu nähern. Davon profitiert der Gastgeber und der Gast, der Lehrer und der Schüler, der Vortanzende und der Zuschauer[1], der ganze gemeinsame Tanzkreis und … hiermit die internationale Kommunikation an sich. Viele Menschen teilen mir mit, dass sie nach einer solchen Begegnung die eigene Kultur besser verstehen und sich selbst erkunden und entwickeln.
[1] Ich verwende hier Maskulin nur für die grammatikalische Erleichterung der Aussage.
Heutzutage spielt in Bulgarien das nationale Gefühl eine wichtigere Rolle als im deutschsprachigen Raum. Deswegen sind auch die Volkstänze, die die kulturelle Identität seit Jahrhunderten pflegen, immer noch sehr populär unter den alten und jungen Bulgaren. Nicht nur für die Touristen werden dort die folkloristischen Bilder vorgestellt. Auch auf der politischen und intellektuellen Bühne Bulgariens, auf den meisten Hochzeiten und vielen anderen Freizeitveranstaltungen, in der Schule, im Club, im Radio und Fernsehen hört und sieht man bulgarische Volksmusik und -tänze, bzw. Musikstücke und Choreographien, die auf dem Traditionellen, Lokalen und Ethnischen basieren.
Die Liebe der Bulgaren zu sehr anspruchsvollen Rhythmen, ihre große Kreativität für Schrittkombinationen, ihr Gefühl für Farbe und Figuren in den Trachten (vor allem die besondere Wertlegung auf Weiß und Rot), ihre rituelle Interpretation des christlich orthodoxen oder des vorchristlichen Kalenders kann man überall im Lande entdecken. Jedoch gibt es fünf ethnographische Gebiete in Bulgarien, deren deutlichen stilistischen Grenzen die Wissenschaftlerinen Elena Stoin und Raina Katsarova für die Bereiche der traditionellen Musik und des Volkstanzes ausdifferenzierten. Diese Gebiete sind Thrakien (manchmal getrennt von Rhodopi), Dobrudscha, Severnyaschko (inkl. Walachei), Schopluk und Pirin-Makedonien. Allein ihre Namen deuten auf die repräsentative Rolle Bulgariens auf dem Balkan, weil man darin einige der wichtigsten alten Volksstämme bzw. Kulturen in Südosteuropa erkennen mag. Meiner Überzeugung nach kann man durch das gründliche Erlernen der traditionellen Tanzstile und -formen aus Bulgarien mit beeindruckenden Geschichten und Glauben, interessanten Überresten der patriarchalischen Sitten, farbigen Landschaften und verschiedenen Mentalitäten und Lebensweisheiten in Berührung kommen.
In der thrakischen Ebene verweisen Bewegungen, Töne und Textilien auf die uralten Sonnenkulte, auf das beliebteste Symbol Bulgariens – die Rose, auf die Fruchtbarkeit der Erde, die große Warmherzigkeit der Menschen, die Fürsorglichkeit der Männer und die Schönheit der Frauen etc. Aus dem Gebirge Rhodopi stammen nicht nur Orpheus und weltbekannte Mythen, sondern auch die bedeutendsten Volkslieder und Dudelsackmelodien der „Mystery of bulgarian Voices“, die ins Weltall als Zeichen der irdischen Zivilisation von den USA gesendet wurden. Dobrudscha ist die Kornkammer Bulgariens, und seine Tänze vermitteln eine sehr starke Verbundenheit mit der Erde, die Arbeitstüchtigkeit, den Reichtum und die Selbstzufriedenheit der dort einheimischen Menschen. Hingegen kann man in Severnjaschko das Streben in den Himmel, Wind und Leichtigkeit erleben. In Schopluk finde ich eine erstaunliche Verwandtschaft mit dem pontischen Instrumentalmusik- und Tanzstil. Das „Schütteln“ und „Ausschütteln“ sind tragende stilistische Verzierungen sowohl im zweistimmigen Gesang, als auch im Tanzschritt und können eine besondere meditative Wirkung haben. Während die Schopinnen sich als extrem stark und emanzipiert in ihrer Folklore zeigen, sollen die Frauen im angrenzenden Makedonien die schönsten Frauen der Welt sein. Im Pirin-Gebiet sind prachtvolle schwere Frauentrachten und tolle kraftvolle Männertänze auf Zurna und Tapan (Schalmei und Trommel) zu sehen. Die Lieder aus dem Pirin-Gebirge sind ziemlich weit verbreitet und besonders beliebt. Nicht zufällig dienten sie vor ca. zwanzig Jahren auch als erste Grundlage der bulgarischen Pop-Folk-Welle. Die Rolle der Roma-Musik und des Bauchtanzes wächst in der so genannten Chalga-Szene immer mehr, aber die makedonische Melodik verliert noch nicht ihre Popularität in sehr breiten Schichten der bulgarischen Gesellschaft und in den Kreisen der Liebhaber der Balkanmusik.
Die Professionalität und das Talent der bulgarischen Komponisten und Choreographen, Musik- und Tanzlehrer, Musiker, Sänger und Tänzer spielen eine sehr wichtige Rolle für das Image der Balkanmusik und der Volkstänze aus der Region. Natürlich sind sie sehr von der staatlichen und gesellschaftlichen Unterstützung abhängig.
Wie ich schon angedeutet habe, sind der Musik- und Tanzreichtum in Bulgarien mit einer vielschichtigen geschichtspolitischen Erfahrung und der ethnischen Vielfalt im Lande verbunden. Ganz bewusst schreibe ich hier nicht „bulgarische Tänze“ sondern „Tänze aus Bulgarien“, weil die meisten der oben aufgezählten ethnographischen Gebiete Staatsübergreifend liegen und weil in Bulgarien auch zusätzlich einige ethnische und religiöse Minderheiten leben, deren Traditionen noch mehr Kolorit der Musik- und Tanzkultur geben.
Welche sind denn die historischen Ecksteine, die die bis heute stabile positive Einstellung der Bulgaren zu der Folklore bestimmen?
Ähnlich wie Griechenland und andere Balkanländer stand Bulgarien fast fünfhundert Jahre (1396-1878) unter osmanischer Fremdherrschaft. Die Folklore gilt seit diesen Zeiten nicht nur als Säule der kulturellen Identität, sondern auch als ein Überlebensinstrument. Jeder Bulgare weiß, dass das Bulgarische dank dem einzig erlaubten Volkstanzen und -musizieren sonntags auf dem Dorfplatz überleben konnte. Die Kreisform des Tanzes ist meines Erachtens wegen der osmanischen Fremdherrschaft als Besonderheit der Geschichten auf dem Balkan viel länger als in Mittel- und Westeuropa gepflegt worden. Sie vermittelt und symbolisiert Einheit, Sicherheit, Stärke… Man konnte so alle wichtigen Geschichten der Gemeinde durch den Gesang, der den Tanz begleitete, weitergeben und zusammen hören und entwickeln; die Grenzen der Zugehörigkeit bestimmen; die Regeln kontrollieren und festhalten... Den Kreis hat man meistens offen (als Halbkreis) getanzt, damit man die gesellschaftliche Hierarchie aufstellen oder gegebenenfalls ablesen kann. Hierbei konnte man die Geschlechter- und Altersgruppen positionieren, sich ab- und auszeichnen lassen… Die patriarchalische Moral (die die Bulgaren übrigens mit den osmanischen Eroberern teilten) ließ damals keine Paartänze zu. Wenn man aber die Entfaltung der Potenziale der traditionellen Rhythmen, Schritte und Melodien der Kreistänze und Lieder betrachtet, würde man die Fremdherrschaft – anders als für die anderen Bereiche der nationalen Entwicklung – als eine gute Zeit für die bulgarische Folklore bezeichnen.
Genauso zweiseitig könnte man auch die sozialistische Vergangenheit Bulgariens bewerten. Das totalitäre Regime wusste die Liebe der Bulgaren zur Folklore und ihre Selbstidentifizierung mit ihr zu instrumentalisieren. Die Pflege des Brauchtums und darüber hinaus des nationalen Stils lag unter den Schwerpunkten der Kulturpolitik. Große staatliche Subventionen galten elitären gymnasialen und akademischen Ausbildungen in den Bereichen der Volksmusik, des Volkstanzes und der Ethnologie, professionellen und nicht professionellen Ensembles für Volkstanz und Volksmusik, vielen Folklorefestivals und wissenschaftlichen Forschungsprojekten. Die entsprechenden Bühnenchoreographien und Musikkompositionen auf der Basis der Folklore hatten eine sogar auf dem Balkan schwer erreichbare, großartige und wunderschöne Visitenkarte des Landes geschaffen. Die bulgarischen Performances gehören in Osteuropa zu den aller besten und lassen sich im Westen nur mit dem irischen „River Dance“ und „Lord of the Dance“ vergleichen. Bis heute trauern Kulturträger und Ethnomusikologen der sozialistischen Großzügigkeit nach…
Interessant für mich ist die Tatsache, dass das Interesse der Bulgaren an den einheimischen traditionellen Volkstänzen und Volksliedern – ihrer Erforschung, Erlernung, Pflege und Weiterentwicklung, nach 1989 nicht verloren ging. Dies beweist die tiefen Wurzeln der bulgarischen Wertschätzung der Tanzfolklore als Überlebensinstrument und Quelle der Lebensfreude. Immer mehr neue Clubs für bulgarische Volkstänze bieten den Bürgern aus allen Alters- und Berufsgruppen die Möglichkeit an, in der Freizeit gemeinsam traditionell zu tanzen. Ich glaube, in dieser privaten und absolut offenen Form den positiven Einfluss des Westens zu erkennen. Die Vorliebe der Bulgaren für das Lokale und Eigene im Repertoire des Clubs und das eifrige Organisieren von Folklorefestivals mit Wettkampfcharakter ist aber länger in Bulgarien beheimatet.
So bleibt ein gewisser, für den Balkan typischer Grad an Ethnozentrismus spürbar, der aber eindeutig existenziell bzw. gar nicht pathologisch in Bulgarien ist. Auch wenn die beliebten traditionellen Lieder und Melodien oft das Leid oder sogar die Hoffnungslosigkeit der osmanischen Zeit thematisieren, geben sie den Kampfgeist und die Freiheitsliebe weiter. Letztendlich kann man in Bulgarien immer viel Lebensfreude und Liebe in der gemeinsamen Tanzbewegung erleben.
Noch stärker ist dies im der steigenden Popularität der Roma-Musik in den bulgarischen Discotheken zu spüren. Denn Bulgarien ist auch ein Land, das die kulturelle Vielfalt der ethnischen Gruppen auf dem Balkan seit vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten vereinigt und bewusst oder unbewusst aufbewahren lässt. Darüber hinaus kann auch der Gast aus dem deutschsprachigen Raum selbst entscheiden, welche Facetten der traditionellen Musik- und Tanzkultur in Bulgarien er kennen lernen möchte und für sich benötigt. Es bleibt jedem offen, ob er dort mit dem Weltkulturerbe der Thrakier und Makedonier in Berührung kommen möchte, das Feuer der Roma und die Weisheit der Juden lernen will oder aber einfach die Vielfalt der Traditionen, die Landesgrenzen überschreiten, genießt.
Gergana Panova
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