Dieser Text ist ein Auszug eines längeren Artikels über die antiken Wurzeln der Volkskunst der Frauen auf dem Balkan, darunter Lied, Tanz, Textilherstellung und Totenklage. Die angeführten Beispiele basieren auf den Forschungen von Dr. Martha Forsyth in den Dörfern von Bistritsa, in der Nähe von Sofia in Bulgarien. Wie überall auf dem Balkan basieren die Volkskünste von Bistritsa auf der sorgfältigen Weitergabe von existierenden Formen, die dennoch mit jedem neuen Ausdruck neu geschaffen werden, indem die unveränderten Elemente einer stabilen Tradition mit den immer veränderlichen individuellen Variationen verwoben werden.
Ich schlage vor, dass Tradition und Improvisation als Kettfäden und Schussfäden gesehen werden können in der Kunst, uralte Muster in Lied und Tanz, Klage und Textil neu zu weben. Um der nicht-webenden Leserin dabei zu helfen, sich dieses Bild gänzlich vorstellen zu können, mag diese Erklärung hilfreich sein: Die Kettfäden oder die Kette bezeichnet das Garn, das zu Beginn des Webablaufes auf den Webstuhl gespannt wird, der Schussfaden wird dann über und unter die Kette geführt, oft mit Hilfe eines Weberschiffchens. Die Kette ist fest, der Schussfaden ist beweglich. In Gesang und
Tanz, genauso in Textilien und Totenklagen, arbeiten die Künstlerinnen mit etwas traditionellem und fixiertem (der unbeweglichen Kette), in das sie Fäden von veränderlichen individuellen Variationen hineinweben (der bewegliche Schussfaden). Ich werde mich auf diesen Prozess als Kette und Schuss von Tradition und Improvisation beziehen.
Tradition und Improvisation im Lied
Die Mädchen und Frauen von Bistritsa praktizieren eine archaische Form des polyphonen Gesangs, ‘die noch Merkmale vorchristlicher Zeit enthält’.1 Eine Gruppe Großmütter, bekannt als die ‘Bistritsa Bábi’ – und im Jahr 2005 zu einem Unesco
Meisterwerk des immateriellen Kulturerbes der Menschheit erklärt – haben diese Gesangstradition bis heute am Leben erhalten. Diese Frauen sind zusammen aufgewachsen und haben zusammen gesungen in den letzten Jahren einer Ära, in der alle Mädchen und Frauen eines Dorfes singen konnten und auch sangen. Ich bin Martha Forsyth, der bekannten Expertin für Dorfgesang in Bulgarien, zutiefst verpflichtet für die Großzügigkeit, mit der sie das Material ihrer jahrelangen
Forschungen in Bistritsa zur Verfügung gestellt hat, und die in diesem Artikel genannten Beispiele basieren auf ihrem Material.2
Bild 1: die Bistritsa Bábi, 1981 © Martha Forsyth, reproduziert mit Erlaubnis
Der als Diaphon bekannte Stil des polyphonen Gesangs besteht aus zwei sich abwechselnden Gruppen von drei oder vier Sängerinnen: die erste Gruppe singt eine Strophe, die zweite wiederholt sie mit identischem Text und gleicher Melodie. Die
Lieder werden aus dem Gedächtnis gesungen, eine Sängerin der ersten Gruppe muss also in der Lage sein, das gesamte Lied zu erinnern und dann den anderen Strophe für Strophe die Worte zu “geben”, “so dass der Rhythmus der Sprache zur Melodie passt…und die Anzahl der Silben stimmt”. Die Texte 3 “wurden in gewissem Mass mit jedem Singen des Liedes neu geschaffen”; “sogar dieselbe Person wird das Lied etwas anders singen, wenn sie es an zwei unterschiedlichen Tagen singt”.4
Eine von Bistritsas Meistersängerinnen war Línka Gékova Gérgova (1904-1992). Baba Línka (‘Großmutter Línka’) hatte ein Repertoire von über 200 traditionellen Liedern, die sie nach dem Gehör von ihren Eltern und Tanten gelernt hatte. Línka
hatte eine ganz besondere Gabe sowohl für das Singen als auch das Erinnern der Lieder, und übernahm schon in jungem Alter die Rolle, den anderen Sängerinnen die Worte zu “geben”.
Bild 2: Baba Línka Gérgova © Martha Forsyth, reproduziert mit Erlaubnis
Die Lieder aus Bistritsa erzählen eine unverändert zugrundeliegende Geschichte (die
Kette der festgelegten Tradition), die gleichzeitig ständige Variationen in Text,
Metrum oder Melodie enthält (der Schussfaden der veränderlichen Improvisation).
Wenn sich die Sängerinnen aus Bistritsa treffen, singen sie vielleicht “einen
bekannten Text zu einer anderen Melodie, in einem anderen Rhythmus, oder mit
einem anderen Refrain”.5 Baba Línka erklärt, dass die Lieder von früheren
Generationen weitergegeben wurden, und “eine Person fügt hier etwas dazu, eine
andere lässt da etwas weg, eine andere ändert etwas anderes – und so ist das eben. Sie
können nicht immer genau gleich bleiben.”6
Tradition und Improvisation in der Tracht
Wir sehen das Zusammenspiel von Tradition und Improvisation genauso in der Art, wie die Frauen ihre Kleidung herstellen. Viele Stunden am Tag wurden mit den essentiellen Aufgaben von Weben, Spinnen, Nähen und Sticken verbracht. Genauso wie schon in alter Zeit singen die Frauen typischerweise während dieser Arbeit.7
Textilhistorikerin Marie-Louise Nosch hat dokumentiert, wie bestimmte oft gesungene Rhythmen in bestimmten oft gewebten Mustern reflektiert werden. Ein Beispiel: beim Weben eines 2/1 Mehrgratköpers laufen die Schussfäden über
einen und unter zwei der Kettfäden. “Dieses Muster [– ̆ ̆ ] erinnert an den Dactylus, der das grundlegende Element des Hexameters bei Homer darstellt”.8 Bekannt als der syrtós ist dieses lang-kurz-kurz-Muster in Griechenland auch heute noch der am weitesten verbreitete Rhythmus für Gesang und Tanz.9
Genau wie die Lieder wurde auch ein Repertoire von Elementen und Motiven der Trachten über Generationen weitergegeben; diese dienen dazu, Heimatdorf, Alter, Rang und Familienstand der Trägerin zu identifizieren. Manche Elemente wurden streng beibehalten, andere durften sich entwickeln und verändern. In Linkas Jugend zum Beispiel begannen die Frauen, in die rote Stickerei auf den Ärmeln ihrer Hemden oder košúlja kleine Flecken in blau, weiss und grün einzufügen, aber insgesamt musste die Farbe der Frauentracht in Bistritsa der uralten und magischen
Farbkombination von rot, weiss und schwarz folgen.10
Besondere Stickmuster, genauso wie mit Pailetten und Perlen verzierte Spitze, wurden als stark apotropäisch angesehen, besonders an Säumen, Kanten und Öffnungen der Kleidung.11 Zu Schutzzwecken musste daher jede Frau Spitze am
Saum ihres Hemdes haben, aber jede Frau fertigte ihre Spitze etwas anders. “Auf diese Weise dienen Textilien dazu, sowohl individuelle Identität auszudrücken als auch den kulturellen Code zu bestätigen.”12
Bild 3: Bistritsa Frauentracht mit Stickerei an den Öffnungen und Spitze am Saum.
Zeichnung © Alice Johnson (Forsyth 1996: 70), reproduziert mit Erlaubnis
Tradition und Improvisation im Tanz
In dem uralten Kreistanz, horo, ermöglichen stabile Schrittsequenzen unendliche persönliche Variationen, “abhängig von dem Lied und uralten rituellen Zwecken”.13
Die erste und die letzte Tänzerin in der Reihe oder im offenen Kreis “können im fortschreitenden Tanz die Reihe in verschiedene schlangenartige Formationen biegen”.14 Diese Muster gleichen der Spirale und anderen symbolischen Motiven, die auf die Festtracht der Frauen genäht und gestickt werden. Das unveränderte Tanzmuster kann gesehen werden als die unveränderliche Kette, die individuellen Variationen als der improvisierte Schussfaden, und genau wie in den Liedern findet damit jedesmal ein “neu weben” der zugrundeliegenden Tanzmuster statt.
Tradition und Improvisation in der Totenklage
Die archaische Kunstform der Totenklage kommt “durch eine ungebrochene mündliche Tradition, die mindestens bis zu der Zeit Homers zurückreicht, bis zu den Totenklagen des antiken Griechenland.”15 Die rituelle Totenklage in Osteuropa
verschwindet schnell, wird aber an bestimmten Orten noch immer praktiziert, darunter auch in Bistritsa, wo “Línka berühmt war für ihre elegante Totenklage”.16 In dieser Kunstform finden wir wieder einen zugrundeliegende Kette aus traditionellem Metrum, Melodiestrukturen und formelhaften Phrasen zum Ausdruck von Verlust und Trauer, diese wird dann verwebt mit einem Schussfaden aus neuem Text, “passend zu dem besonderen Anlass eines individuellen Todes”.17
Schlussfolgerungen
Die gemeinschaftlichen volkstümlichen Kunstformen der Frauen – Lieder, Tänze, Textilien und Totenklagen – können als nicht niedergeschriebene “Texte” gesehen werden, und jede neue Wiedergabe besteht aus dem Verweben einer stabilen
Tradition, der festgelegten Kette, mit der persönlichen Interpretation, dem beweglichen Schuss. Volkstraditionen werden damit auf flexible Weise weitergegeben: etwas ist niemals nur eine exakte Wiedergabe von etwas
Festgelegtem aus der Vergangenheit, und niemals nur etwas Neues.
Bistritsa ist nur eines von vielen Dörfern auf dem Balkan und in Griechenland, in denen eine Handvoll Großmütter den essentiellen roten Faden alter Bräuche am Leben erhalten hat, und zwar genau durch dieses dynamische Gleichgewicht von Tradition und Improvisation. Diese Rituale sind ihnen aus der fernen Vergangenheit übergeben worden, und die Frauen sind sich der Notwendigkeit bewusst, sie sorgfältig zu bewahren. Ihr Anliegen ist es vor allem, sie weiterzugeben: die
Traditionen in der Gegenwart lebendig zu erhalten ist ihr Geschenk an die Zukunft. Darin erinnern die Sängerinnen von Bistritsa an die Musen des Hesiod, die singen von “den Dingen, die sind und die sein werden und die vormals waren”.18
Auf dem Webstuhl der Zeit reichen die unveränderten Kettfäden der Tradition in beide Richtungen, ständig wiedererschaffen von den Menschen, die das Gewebe der Vergangenheit bewahren, indem sie es neu weben, wieder und wieder, im jeweiligen Moment, und immer mit dem Ziel, es lebendig zu erhalten und weiterzugeben. Die verschiedenen hier vorgestellten Volkskünste sind auch miteinander verwoben: die Frauen singen, wenn sie tanzen und wenn sie ihre Trachtenkleider anfertigen, bestickt mit Mustern, die die Muster ihres Tanzes wiederspiegeln. Und wenn schliesslich die Zeit kommt, das Sterben einer jeden zu beklagen, werden sie von der Kunstfertigkeit der anderen in all diesen Dingen singen.
Ich möchte schließen mit den Worten von Baba Linka: ‘Mögen [die Lieder] in dieser Welt gesungen werden, und Menschen glücklich machen! Lasst sie unter den Leuten sein, lasst sie von Mund zu Mund gehen!’19
Auszug aus ‘Reweaving the past: Warp and weft of tradition and improvisation in
women’s folk arts of Bulgaria’ von Laura Shannon, in Walking the Worlds 4:1 (Winter
2017). Erhältlich über https://walkingtheworlds.com/issues/.
Übersetzt von Katharina Kroeber.
Von ganzem Herzen empfehle ich Martha Forsyths Buch “Listen, Daughter, and
Remember Well”, das Baba Linkas gesamtes Repertoire an Liedern (auf englisch und
bulgarisch) und die erstaunliche autobiografische Erzählung von Baba Linkas Leben
enthält. Ihr könnt das Buch bestellen auf Marthas sehr informativer Webseite:
martha.forsyths.org, wo ihr euch auch für ihren Blog eintragen könnt.
Hier könnt ihr die Bistritsa Babi sehen: https://www.youtube.com/watch?v=embqgyKHNQ
1 Santova 2008.
2 Forsyth, Martha, Listen, Daughter, and Remember Well: The Songs and Life of Línka Gékova Gérgova
from the Village of Bístritsa, Bulgaria. Sofia: St Kliment Ohridski University / Sofia University Press, 1996.
3 Forsyth 1996: 177.
4 Forsyth 1996: 57, 185.
5 Forsyth 1996: 527.
6 Forsyth 1996: 173.
7 Forsyth 1996: 173.
8 Nosch 2014: 94.
9 Hunt 1996.
10 Forsyth 1996: 71.
11 Kelly 1989, Paine 1990.
12 Shannon 2011: 140.
13 Santova 2008.
14 Forsyth 1996: 209.
15 Holst-Warhaft, 1995: 39.
16 Forsyth 1996: 109.
17 Holst-Warhaft, 1995: 34.
18 Hesiod, Theogonien 39.
19 Forsyth 1996: 23.
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