Was ist Systemische
Tanztherapie?

Die Tanztherapie gehört neben der Musik- und Kunsttherapie
zu den künstlerischen Therapien und nutzt für den psychotherapeutischen Prozess
– häufig mit Unterstützung von Musik – das kreative Potenzial, das jedem
Menschen innewohnt.

Die Tanztherapie basiert auf einem ganzheitlichen
Verständnis des menschlichen Seins. Störungen auf der emotionalen, kognitiven
oder körperlichen Ebene haben immer auch Auswirkungen auf andere Bereiche des
Lebens und sind letztendlich nur theoretisch voneinander zu trennen, nicht aber
im Erleben des Einzelnen.

Allen theoretischen Ansätzen der Tanztherapie sind folgende
Grundhaltungen gemein:

  • Das holistische Menschenbild hebt die
    Körper-Geist-Trennung auf.
  • Die natürliche menschliche Entwicklung verläuft
    gemäß einer Eigengesetzlichkeit.
  • Die Bewegung spielt im psychophysischen
    Entwicklungsprozess des Menschen eine zentrale Rolle.

Wer eine Psychotherapie aufsucht, fühlt sich oft umgeben von
Stolpersteinen des Lebens. Die Systemische Tanztherapie unterstützt die Person
darin, diese Stolpersteine umzudeuten und Schritte für die eigenverantwortliche
Choreografie des Lebens zu entwickeln, so dass ein zufriedenes, selbstbestimmte
Leben gestaltet werden kann.

In der Systemischen Tanztherapie werden zusätzlich zu den
intrapsychischen Prozessen auch interpersonale und gesellschaftliche Einflüsse
auf die Emotionen, Denkweisen und Handlungen eines Menschen berücksichtigt. Ein
Mensch wächst in einer Familie auf, die aufgrund ihrer Regeln den Menschen
bewusst und unbewusst formt. Dieser Mensch muss sich in ein Bildungssystem
einfügen und schließlich seinen Platz in der Gesellschaft finden. All diese Prozesse
prägen die Entwicklung eines Menschen. Er ist ihnen aber nicht passiv
ausgeliefert, sondern beeinflusst sie durch sein Handeln, Nichthandeln und
durch seine Einstellung zu diesen äußeren Begebenheiten. Er trifft
eigenständige Entscheidungen, wie er diese Einflüsse interpretiert. Diese
Interpretationen geben ihm am Ende seines Lebens das Gefühl, ob es gelungen
oder misslungen scheint.

Ziel der Systemischen Tanztherapie ist die emanzipierte
Gestaltung des Lebenstanzes unter Berücksichtigung der Persönlichkeit und ihrer
Ressourcen. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu anderen theoretischen
Modellen in der Psychotherapie sind die Einwände gegen die medizinisch
orientierte „Diagnostik“. Sie suggeriert einen Objektivitätsanspruch, der so
nicht gegeben ist.

Von daher wird in der Systemischen Tanztherapie auch nicht
die Dualität Krankheit-Gesundheit aufgestellt, sondern Krankheit wird als ein
Anpassungsversuch des Menschen verstanden. Der Körper versucht mit seinen
eigenen, ihm verfügbaren Mitteln, ein Problem der System-Umwelt-Anpassung zu
lösen. Die Bezeichnung Krankheit entbindet zudem meist von der eigenen
Zuständigkeit für das Problem und übergibt es den Experten.

In der Systemischen Tanztherapie wird daher auf den Begriff
der Diagnostik weitgehend verzichtet. Die ausdifferenzierte tanztherapeutische
Bewegungsanalyse ermöglicht eine personenbezogene und interaktive Beschreibung
des Menschen, sodass die Würde seiner Einzigartigkeit erhalten bleibt.

Einsatzbereich

Das Einsatzgebiet der TanztherapeutIn umfasst:

  • die psychiatrischen geschlossenen oder offenen
    Einrichtungen, Tageskliniken etc.,
  • sonderpädagogische Einrichtungen,
  • die ambulante Betreuung von neurotischen und
    psychosomatischen Patienten,
  • Kriseninterventionen bei Patienten mit starken
    körperlichen Veränderungen (z.B. Unfallpatienten, Karzinompatienten usw.),
  • den Bereich der Prävention durch den kreativen
    wie funktionalen Teil tanztherapeutischer Interventionen,
  • Paar- und Familientherapie

 

Methode

Das systemische Denken schützt vor einer vorschnellen
Einschränkung oder Ausgrenzung möglicher Lösungsansätze. Die Offenheit
systemischen Denkens veranlasst dazu, querzudenken, umzudeuten und sich auf die
Komplexität und Dynamik von Situationen einzulassen und das kreative Potenzial
der Tanztherapie auszuschöpfen. Das Richtig-falsch-Denken wird durch ein
komplexes Problembewusstsein ersetzt. Durch hypothetische Fragen zu den
belastenden Lebensfeldern entstehen Annahmen, die mit Hilfe der
Bewegungsaufgaben überprüft werden. Die Bewegung und der Tanz ermöglichen das
Wahrnehmen anderer Sichtweisen, sodass alte eingefahrene Konstruktionen
aufgehoben werden.

Das wichtigste Kriterium für die Wahl einer Methode ist das
Klientel. Psychotische Personen z.B. benötigen aufgrund ihrer inneren
Strukturlosigkeit angeleitete Bewegungsstrukturen, sodass sich die
TanztherapeutIn fast immer mitbewegt.

Neurotische Klienten müssen eher durch schöpferische
Improvisation die authentischen inneren Impulse wieder entdecken, sodass die
TanztherapeutIn mehr als begleitende ZeugIn fungiert.

Die Arbeit der TanztherapeutIn zeichnet sich durch
Prozessorientiertheit aus, wobei der individuelle Bewegungsstil des Klienten
Ausgangspunkt für jede tanztherapeutische Intervention ist. Ausgehend von der
aktuellen Befindlichkeit des Patienten stellt das erlebte Problem (Erfahrungen
mit dem Körper, den Beziehungen, dem Arbeitsumfeld) den Ansatzpunkt des
therapeutischen Prozesses dar.

Welches System als therapeutisch relevant angesehen wird,
hängt von dem spezifischen Kontext des Therapieauftrages ab. Systemisch
tanztherapeutische Praxis erfasst neben dem klinischen Feld auch andere
Bereiche wie Beratung, Supervision, Fort- und Weiterbildung sowie
Organisationsentwicklung.

 

Bewegungsanalyse

Rudolf von Laban und mit ihm Warren Lamb, Judith Kestenberg,
Irmgard Bartenieff, Marion North u.a. entwickelten ein
Bewegungsbeobachtungssystem, das die Arbeitsgrundlage einer jeden
TanztherapeutIn sein sollte. Aufgrund der umfangreichen Forschungsarbeiten ist
es der TanztherapeutIn heute möglich, anhand der Bewegungsqualitäten die
entsprechende psychische Entwicklung und die Persönlichkeitsstruktur des
Patienten/Klienten zu analysieren. Durch die Komplexität der Bewegungsanalyse
wird der Mensch in seiner Einzigartigkeit gesehen und nicht in psychiatrische
Diagnosekategorien eingeordnet. Auf der Basis dieser bewegungsanalytischen
Diagnose wird zum einen die therapeutische Beziehung festgelegt und zum anderen
der Behandlungsplan abgeleitet. In der Arbeit mit Kindern lässt sich mit Hilfe
dieser Analysekriterien das psychophysische Entwicklungsalter des Kindes
bestimmen, so dass die TanztherapeutIn adäquat auf dieses Alter, und nicht
notwendigerweise auf das chronologische Alter, reagieren kann.

 

Geschichte

Die Wurzeln der Tanztherapie
finden sich in der Entwicklung des Tanzes und der Psychologie. Tanz ist eine
der ersten und ältesten Formen menschlichen Ausdrucks von Gefühlen. Auch heute
noch finden wir bei Naturvölkern die Einstellung, dass Tanz gleichbedeutend ist
mit allen wichtigen Aspekten des Lebens. Neben einer heilenden oder
transzendentalen Funktion festigen Tänze Identität und Wertesysteme
menschlicher Gemeinschaften.

Vom frühen Mittelalter bis zu den Anfängen des 20.
Jahrhunderts setzte in den westlichen Kulturen eine zunehmende Formalisierung
des Tanzes ein. Dabei wechselte der Fokus vom religiösgesellschaftlichen
Kultausdruck hin zur Technisierung, Normierung und Perfektion. Tanz war immer
weniger in das Alltagsgeschehen integriert und wurde zunehmend zur Kunstform.

In der aufbrechenden Stimmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts
revolutionierte sich auch die Tanzszene in Europa und Amerika. Tänzerinnen wie
Isadora Duncan und nachfolgend die deutsche Ausdruckstanzbewegung (Rudolf von
Laban, Mary Wigman u.a.) entwickelten eine Form des Tanzes, bei der wieder
innere Gefühle den Ausdruck bestimmten. Alle Gründerinnen der Tanztherapie sind
von dieser Zeitströmung beeinflusst worden und haben zum Teil selbst bei Mary
Wigman studiert.

Parallel zu der Entwicklung des Tanzes entstanden in dem
noch sehr jungen Gebiet der Psychologie verschiedene theoretische Ausrichtungen
(Freud, Jung, Adler, Reich etc.), die alle einen Einfluss auf die spätere
Entwicklung der Tanztherapie haben sollten.

Die Anfänge der Tanztherapie in den USA der 1940er Jahre
sind geprägt durch einige Tänzerinnen, die zumeist durch die Kriegswirren nach
Amerika emigrierten, um dort zunächst ihre Tanzkarrieren fortzusetzen.
Unabhängig voneinander brachten sie den Tanz an der amerikanischen Ost- und
Westküste in die psychiatrischen Kliniken.

Trudi Schoop und Marian Chace arbeiteten vorwiegend mit
psychiatrischen Patienten, Mary Whitehouse und Liljan Espenak entwickelten auf
der psychologischen Grundlage von C.G. Jung und Alfred Adler tanztherapeutische
Vorgehensweisen für neurotische Patienten. Diese und andere Begründerinnen der
Tanztherapie versuchten mit viel Herz und Intuition die Begeisterung für den
Tanz auf die Patienten zu übertragen.

Die zweite Generation der Tanztherapeutinnen bemühte sich
dann verstärkt um die wissenschaftliche Überprüfbarkeit der Tanztherapie. Janet
Adler entwickelte auf der Basis der Psychologie C.G. Jungs die von Mary
Whitehouse begründete Authentische Bewegung weiter. Judith Kestenberg leistete
wichtige Beiträge zur Bewegungsbeobachtung und Bewegungsentwicklung im frühen
Kindesalter.

Irmgard Bartenieff verband ihr physiologisches Wissen mit
tanztherapeutischen Inhalten. Elaine Siegel entwickelte einen
psychoanalytischen Ansatz der Tanztherapie.

 

Berufsverbände

Neben den nationalen Berufsverbänden gibt es den
europäischen Dachverbandes EADMT (European Association Dance Movement Therapy),
der 2010 gegründet wurde und verbindliche Standards für die anerkannten
Berufsverbände festlegt.

 

Literaturtipp:

Bender, S. (2010). Die psychophysische Bedeutung der
Bewegung - Ein Handbuch der Laban Bewegungsanalyse und des Kestenberg Movement
Profiles, Berlin: Logos.

Bender, S. (2014). Systemische Tanztherapie. München: Ernst
Reinhardt.

Fotoquelle: EZETTHERA, München