...als heilige Füße vollkommener Tänzer Staub aufwirbelten, wurde die Erde..
Rigveda 10;72,6

Indien ist ohne Tanz nicht zu denken, denn in der indischen Glaubensvorstellung leiten sich alle Tanztraditionen von den Göttern ab. Sie sind die Erfinder aller Tänze und somit auch die Begründer des Tanzkultes. Nach dem indischen Mythos begann der Tanz in seiner Polarität von Ruhe und Bewegung mit Shiva, dem kosmischen Tänzer, und mit ihm begannen die Zeit und das Leben. Als der Gott anfing sich nach dem Rhythmus seiner Trommel zu bewegen, nahm das Universum Gestalt an. Auch die Erde wurde geschaffen und erwachte zu pulsierendem Leben. Um die Schöpfung in ihrer Ganzheit zu erhalten, tanzt Shiva jeden Abend ehe die Sonne untergeht auf dem Gipfel des Berges Kailash im Himalaya als dem Zentrum der Welt.

Aber nicht nur die Götter tanzen, sondern auch im Volk wird der Tanz gepflegt und hat bis heute seinen festen Platz insbesondere im Rahmen der religiösen Feste. Ein schönes Beispiel für den devotionalen Volkstanz Indiens ist die Garba, eine Tanzform, die die Jahrtausende alte Beziehung der Inder zur Erde als ihre Mutter und Göttin wiederspiegelt.

Der Name leitet sich ab von dem Wort Garbo (Gujarati) und ist die Bezeichnung für ein bauchiges Gefäß aus Ton, das von Frauen auf dem Kopf getragen, zum Wasser holen oder als Pflanzgefäß verwendet wird.

Die Legende erzählt, dass der Garbatanz in mythischer Vorzeit von Parvati, der Gemahlin Shivas, getanzt wurde. Sie lehrte ihn der Schwiegertochter Krishnas als dieser König der Provinz Saurashtra war. Usha, so hieß die Prinzessin, tanzte den Tanz mit ihren Dienerinnen und so fand er den Weg in die Nachbarprovinz Gujarat. Ursprünglich ein reiner Frauentanz zu Ehren der Großen Göttin, wird er heute auch von Männern und in zahlreichen Varianten getanzt. Die Tempel, Häuser und Straßen sind geschmückt, es ist Navratri, die Zeit nach dem fruchtbaren Monsunregen, oder auch das Frühlingsfest der Farben, Holi.

Die Texte der zugehörigen Lieder stammen aus dem Kontext der Bhakti – Bewegung, eine Bewegung von Mystikern, die eine große volksreligiöse Wirksamkeit entfaltet haben. Dichter-Heilige aus dem Volk haben sie verfasst, nicht in Sanskrit sondern in den Volkssprachen z.B. Hindi, Rajastani, Gujarati, Bengali. Man konnte sie daher unmittelbar verstehen und benötigte keine Experten für die Übersetzung. Es sind dies die für die Menschen wirklich relevanten Texte: Lieder die in den Haushalten gesungen werden. Bhakti bezeichnet außerdem einen speziellen Befreiungsweg aus dem Geburtenkreislauf heraus, der nicht über Erkenntnis sondern über die liebende Hingabe an einen personalen Gott verläuft, z.B: Vishnu, Shiva, Shakti.

In der Symbolsprache des indischen Mythos ist Shakti die Göttin mit den vielen Namen. Sie ist die dynamische Energie und schöpferischer Aspekt des Alls. Sie trägt auch die Namen Durga, Parvati, Kali, Lakschmi....Im Shaktismus als eigene Religion rückt die Shakti ins Zentrum der religiösen Verehrung und die männlichen Götter sind ihre Erscheinungsformen. Bis heute werden in den Hindureligionen die göttliche Mutter in ihren unterschiedlichen Gestalten sowie der Shiva-Lingam, ein Phallus-Symbol, als Symbole des Schöpferischen und der Fruchtbarkeit verehrt.

Auch Texte der Krishnaverehrung haben sich mit den Bewegungsmotiven des Garba-Reigens verwoben. Als Krishna ein jugendlicher Kuhhirte war und die Tage mit den Tieren in der Natur verbrachte, soll er jede Nacht mit den Gopis (Gespielinnen seiner Jugend) getanzt haben. Durch den Ton seiner Flöte berührte er ihre Herzen und weckte ihre Liebe. Sie haben später sein Leben besungen und so die Gotteserinnerung gepflegt.

In der musikalischen Tradition steht die Flöte für jenes Instrument, das dem göttlichen Atem seinen Klang verleiht. Der Klang aber gilt als die höchste Form des Brahman, des Absoluten. Durch den Urton der Trommel Shivas ist einst die ganze Schöpfung enstanden. Der Klang durchdringt das gesamte Universum und stellt gewissermaßen die Verbindung zum Ursprung wieder her, wenn der Mensch sich ihm singend oder lauschend überlässt.

Der Tanz Krishnas mit den Gopis ist ein zeitloses Thema indischer Liebesmystik und hat die liebende Vereinigung des Gotthelden mit seiner ewigen Geliebten, der Welt zum Inhalt. Als Krishnas Shakti wird seine Jugendgespielin Radha, die Inkarnation der Göttin Lakshmi verehrt. Radha und Krishna sind eine vereinte Seele in zwei Körpern, die ihre gegenseitige Liebe erfahren. Der gläubige Mensch soll seine Gottesliebe mit derselben Hingabe wie Radha und die Gopis vollziehen um die erstrebte Einheit zu erlangen. Die Vereinigung mit dem göttlichen Geliebten wird durch stilisierte Bewegungen und durch das wiederholte Anrufen der Gottesnamen erinnert und lebendig gehalten.

Die Choreographie ist dem Tanz der Bienen nachempfunden, wenn sie nach einem Erkundungsflug anzeigen, dass sie Nektar gefunden haben. Dabei kreisen sie mit ausgebreiteten Flügeln am Boden in Form einer liegenden Acht einmal rechts, dann links im Wechsel. Rasa (Sanskrit: Saft, Geschmack, Essenz) bezeichnet einen nicht in Worte zu fassenden mentalen Zustand der Freude und Erfüllung, jenes süße Lebenselixier, das dem gläubigen Menschen in einer gelungenen Gottesbeziehung zuteil wird.

 

 

Ein anderer Schöpfungsmythos erzählt vom Quirlen des Urozeans um den Nektar der Unsterblichkeit heraus zu filtern. Mit Hilfe einer Schlange als Seil, die geschlungen um den Götterberg Meru am Grunde des Wassers ruht, quirlten Götter und Dämonen das Wasser auf. Als erstes waren die Götter am Zug und sie zogen einen vollen Topf mit dem Nektar heraus: das essentielle Gute. Danach folgte die Göttin und nach ihr erst die gesamte Schöpfung. Aber es entbrannte ein heftiger Streit um den Topf (Khumb) und dabei fiel je ein Tropfen des göttlichen Taus auf vier Stellen der Erde, die in der Folge zu Orten höchster Verehrung und zu Schauplätzen von Indiens größter Wallfahrt, der Khumb Mela wurden: Haridwar, Allahabad, Naisk und Ujjain. Der Turm im Bild bezeichnet jene Stelle in Haridwar, an der der göttliche Nektartropfen ins Wasser des Ganges gefallen sein soll.

 

Weiterführende Literatur:
Maria-Gabriele Wosien (1994) Tanz-Symbole in Bewegung, (1997) Tanz-Bilder des Weges, beide Verlag Veritas
Peter Schreiner (1998) Im Mondschein öfffnet sich der Lotus - Der Hinduismus, dtv-Verlag
Margaret Stutley (1994) Was ist Hinduismus - eine Einführung in die große Weltreligion, O.W.Barth Verlag
Heinrich Zimmer (1981) Indische Mythen und Symbole, Eugen Diederichs Verlag

Foto: "Krishna and Radha - Idols on Marble Throne - Radha-Krishna Mandir - Narna - Howrah 2014-04-14 0283" by Biswarup Ganguly. Licensed under CC BY 3.0 via Wikimedia Commons