Meine Arbeit als Tanzdozent und Spezialist für russische Tänze
1972 wurde ich von Lucas Hoving, dem damaligen Direktor der Rotterdamer
Tanzakademie gebeten, mich um eine Stelle als Dozent für Charaktertanz zu
bewerben. Lucas Hoving war der Meinung, dass Charaktertanz das Tanzgefühl der
Studenten in der Grundausbildung und im ersten Studienjahr gut stimulieren
würde. Aus diesem Grund wollte er mehr dieser Stunden ins Unterrichtsprogramm
aufnehmen. In derselben Periode war ich auch als Dozent an der Tanzakademie in
Arnheim tätig und einmal in der Woche trainierte ich die Tänzer des Folkloristisch
Tanztheater in Amsterdam, das damals die erste Saison Dank einer Subvention des
Ministeriums als professionelle Tanzgesellschaft bestand. Ich musste all diese
Funktionen mit meiner Arbeit als Berufstänzer kombinieren, was nicht immer
einfach war. Letztendlich musste ich nach einem Jahr diese zusätzlichen Jobs
aufgeben, weil die Belastung doch zu groß wurde.
1974 wurde ich von der NEVO (Niederländische Volkstanz Organisation)
gefragt, ob ich einen Kursus russische Volkstänze geben würde. Ich sagte zu und
das wurde meine erste Erfahrung mit der Arbeit mit Laienvolkstänzern. Die
Tanzbeispiele, die ich damals für die Volkstänzer vorbereitet hatte, waren
Teile aus Bühnenchoreografien die ich kannte. Aus heutiger Sicht waren die
Tänze, die ich für diese Zielgruppe zusammengestellt hatte, viel zu
kompliziert. Sie waren viel zu abwechslungsreich, die Formen waren zu komplex
und die Schritte unbekannt und zu schwierig. Erstaunlicherweise kam dieser
Kursus doch gut an und ich wurde erneut für einen weiteren Kursus gefragt. Beim
zweiten Mal war ich besser vorbereitet und vereinfachte alles, was nur zu
vereinfachen war. Im Vergleich mit den in Volkstanzkreisen bekannten
israelischen und Balkantänzen waren meine russischen Tänze zwar sehr anders,
aber es schien doch Interesse dafür zu bestehen. Wegen meines anstrengenden
Lebens als Bühnentänzer konnte ich jedoch solche Kurse für Volkstänzer nur sehr
wenig geben.
Nachdem ich 1986 meine Arbeit als Berufstänzer beendet hatte, beschloss
ich, mich ganz auf das Unterrichten von russischen Tänzen zu konzentrieren. An
der Rotterdamer Tanzakademie gab es die Ausbildung zum Volkstanzdozenten schon
seit Anfang der 70er Jahre und so konnte ich den dortigen Studenten
Spezialkurse in russischem Volkstanz anbieten. Daneben gab ich auch Unterricht
in Charaktertanz. Vom Folkloristischen Tanztheater (später umbenannt in Internationales
Tanztheater) wurde ich erneut gefragt, russisches Tanztraining für die
TänzerInnen zu geben, um sie auf einen Choreografen aus Amerika vorzubereiten.
Er sollte bei diesem Ensemble eine russische Choreografie einstudieren. Dieser
Choreograf war Alexandru David, ein Rumäne, der als Tänzer eines staatlichen
rumänischen Volkstanzensembles während einer Tournee in den Westen geflüchtet
war. Von Alexandru David hatte ich bereits gehört und ich wusste, dass er in
Deutschland Volkstanzkurse gab. Er gab Unterricht in rumänischen Tänzen aber er
bot auch russische Tänze an. Als Alexandru David in Amsterdam seine
Choreografie beim Folkloristisch Tanztheater einstudierte, lernte ich ihn
kennen. Es zeigte sich sogleich, dass er im Tanzstil von Mojsejev geschult war.
Als ich ihn fragte ob er Ustinowas Arbeit kennt, hatte er selbst ihren Namen
noch nie gehört. Eigentlich hatte er lediglich Kenntnis von Tanzschritten und
Schrittkombinationen, aber kaum einiges Wissen von russischer Kultur, Folklore
und Hintergründen, und er sprach auch kein russisch. Das was Alexandru David
auf dem Gebiet von russischem Tanz zu bieten hatte, war meiner Meinung nach
sehr wenig. Als er mir erzählte, dass er außer in Europa auch in Taiwan und
Japan Kurse in russischem Tanz gab, sah ich für mich selbst gute Chancen. Schon
bevor ich meine Weiterbildung in Moskau gemacht hatte, hatte ich bereits ein
viel größeres Wissen über russische Tänze als er. Wenn er mit seinem
eingeschränkten Wissen über den russischen Tanz schon zu einer internationalen
Bekanntheit werden konnte, dann müsste mir das sicher auch glücken.
Unterrichten über die Grenzen
Meine Weiterbildung in Moskau hatte mir die ‚Nahrung‘ gebracht, die ich
einsetzen konnte um neue Tanzprogramme zu entwickeln. 1986 wurde ich in den
Niederlanden immer öfter für russische Tanzkurse eingeladen und mein neues
Programm kam gut an. In diesem Jahr erschien auch meine erste LP mit russischer
Tanzmusik und sie verkaufte sich gut. Bereits 1979 war ich schon einmal in
Belgien zu einem Kurs für russische Tänze eingeladen, an dem auch deutsche
Teilnehmer anwesend waren. 1986 bekam ich meine erste Einladung einen Kursus in
Hamburg zu leiten. Aber meinen echten Durchbruch in Deutschland habe ich
Christiane Seibel zu verdanken. Sie hatte mich schon 1979 bei dem Kurs in
Belgien kennengelernt und mich gefragt, ob ich einen Kurs in Mettmann, der
Stadt in der sie wohnt, geben will. Auf diese Einladung konnte ich damals
leider noch nicht eingehen. So fand der erste Kurs in Mettmann erst im Frühjahr
1987 statt. Dazu hatte Christiane alle Tanzfreunde eingeladen die sie kannte,
von Berlin über Süddeutschland bis Österreich. Dieser Kursus wurde ein großer
Erfolg und schon schnell danach bekam ich Einladungen aus ganz Deutschland.
Während der ersten Periode reiste Christiane zu fast allen Kursen mit und stand
mir mit Rat und Tat zur Seite. 1987 gab ich zum ersten Mal einen Sommerkursus
in der Schweiz. Dort sollten in den folgenden Jahren noch viele Sommer- und
Wochenendkurse folgen.
Ein wohl ganz besonderer Zufall war, dass ich mit meiner Mutter, Christiane
und meinem Partner Frans 1989 am Tag des Mauerfalls unterwegs nach Berlin war.
Berlin glich an diesem Tag einem Irrenhaus und an jenem Abend zogen wir mit
allen Kursteilnehmern zum Kurfürstendamm und ließen uns mitreißen von der Euphorie
des Augenblicks.
Mein ‚Zirkus‘
Weil sowohl mein Vorname als auch mein Nachname typisch niederländisch
sind, war es mir doch wichtig, meine Kursteilnehmer wissen zu lassen, dass ich
eine russische Mutter habe. Und weil meine Mutter und ich noch immer gerne
zusammen sangen, versuchte ich sie zu motivieren, aktiv an meinen Kursen teilzunehmen.
Sie hatte jahrelang in verschiedenen russischen Gruppen gesungen und obwohl sie
auf diesem Gebiet seit Jahren nicht mehr aktiv war, konnte sie immer noch gut
singen. Anfänglich war sie über einen aktiven Beitrag an meinen Kursen nicht so
begeistert, weil sie sich selbst zu alt dafür fühlte. Doch meine
Überzeugungskraft zeigte ihre Wirkung und wir begannen Pläne zu machen, den
Kursteilnehmern russische Lieder beizubringen. Unsere russischen Kostüme wurden
aus dem Schrank geholt, ausgebessert und ergänzt und wir begannen, meinen
Teilnehmern etwas mehr als nur russische Tänze und Lieder zu präsentieren. In
den Niederlanden war die Tatsache, dass ich ein Kind aus einer
russisch-niederländischen Ehe bin, in Volkstanzkreisen schon überall bekannt.
In Deutschland und der Schweiz wusste das kaum jemand. Darum dachte ich, dass
es gut ist, als Dozent für russische Tänze auch die Aufmerksamkeit auf meine
russische Abstammung zu lenken. Und dafür war es die beste Gelegenheit, meine
Mutter einfach zu den Kursen mit zu nehmen. Wir begannen jeden Kurs mit einer
traditionellen Begrüßung in Kostümen, mit Brot und Salz und einem Lied. In den
ersten Jahren hat unser Volvo eine gigantische Anzahl an Kilometern zurück
gelegt. Mein Partner Frans fährt gerne Auto und hat uns alle drei immer gut und
sicher in alle großen und kleinen Städte in Deutschland und der Schweiz
gebracht. Der Kofferraum unseres Autos war immer voll beladen mit LPs, unseren
Kostümen, mit Balalaika und Gitarre, dem Samowar für den russischen Tee und dem
Brot für die offizielle Begrüßung, das Frans am Tag zuvor selbst gebacken
hatte. Ich hatte keinen besseren Zeitpunkt treffen können, um Interesse für den
russischen Tanz zu wecken. Es war die Zeit der Perestroika und Russland erhielt
ständig positive Aufmerksamkeit in den Medien. Zwischen 1986 und 1990 bekam ich
immer mehr Einladungen zu Tanzkursen mit einem russischen Abend. Dieser bestand
aus Liedern, die meine Mutter und ich vorsangen, sowie dem gemeinsamen Singen
von russischen Liedern, die wir den Teilnehmern beibrachten. Mit allen
Anwesenden, auch denjenigen ohne jegliche Tanzerfahrung, wurden einfache Tänze
gemacht und während der Pause gab es Tee aus dem Samowar und russische Spezialitäten.
Diese Periode der vielen Autofahrten durch Deutschland und der Schweiz ist
in meiner Erinnerung als eine der schönsten Zeiten geblieben. Wir drei waren
ein gutes Team und haben die schönsten Abenteuer erlebt. Überall in Deutschland
und der Schweiz haben wir aberhunderte Menschen kennengelernt.
Tanzreisen nach Russland und in die Ukraine
Die erste Tanzreise nach Russland fand 1989 statt. Ich wurde vom damaligen
LCV (Landeszentrum für Volkstanz) gebeten, das Programm für eine Reise nach
Russland zu gestalten und diese als Reiseleiter zu begleiten. Ich organisierte
in Moskau und anderen Städten Unterrichtsstunden, die von meiner Lehrerin Olga
Solotowa abgehalten wurden. Slawa Schurov organisierte die Treffen mit
Amateur-Folkloregruppen. Das staatliche Reisebüro sorgte für das touristische
Programm.
Meine guten Beziehungen zu vielen wichtigen Menschen in der Tanzwelt und in
politischen Organen in Moskau machte vieles möglich. So war z.B. Mira Kolzowa
bereit, für unsere Teilnehmer eine kleine Privatvorstellung von Berjoska in
Kostümen zu geben. Der Blick hinter die Kulissen eines weltberühmten Ensembles
machte auf alle großen Eindruck. Außerdem standen auch viele Begegnungen mit
Amateur-Folkloreensembles auf dem Programm. Doch der absolute Höhepunkt war der
Besuch einer Probe beim Pjatnitski Volkschor. Gleich am ersten Tag nach unserer
Ankunft in Moskau gab das Ensemble eine kurze Vorstellung mit Chor, Orchester
und Tanzgruppe. Das dies möglich war, war der aktiven Mitarbeit von Tatjana
Ustinowa zu verdanken. Als der Chor einsetzte, beobachtete ich die Reaktionen
der Teilnehmer und genoss es sehr, als ich an ihren Gesichtern sah, welchen
Eindruck dieses Ensemble auf sie machte. Die Reaktion eines Teilnehmers werde
ich nie vergessen. Seine Worte waren: „Auch
wenn alle folgenden Programmpunkte dieser Reise eine Enttäuschung werden
sollten, dann war allein dieser Programmpunkt all das Geld wert, das ich für
diese Reise bezahlt habe.“ Eine schönere Reaktion hätte ich mir kaum
wünschen können.
Ein weiterer Programmpunkt dieser Reise war ein „Besuch bei Russen zu
Haus“. Die Sowjet-Union bestand noch und für die meisten Westeuropäer war
Russland noch immer ein ziemlich unbekanntes Land. Für so einen Besuch teilte
ich die Teilnehmer in kleinere Gruppen ein und sorgte dafür, dass in jeder
Gruppe jemand dabei war, der russisch sprach oder dass jemand in den
Gastfamilien ausreichend deutsch oder englisch sprach. Diese Besuche bei den
russischen Familien waren ein Volltreffer. Außerdem kannte ich alle Gastfamilien
persönlich und wusste, dass meine Teilnehmer die herzliche Gastfreundschaft
dieser Menschen sicher schätzen würden.
In den folgenden Jahren organisierte ich weitere Tanzreisen, manche im
Winter, andere in den Oster- oder Sommerferien. Während der Tanzreise im Winter
1991/92 machten wir mit den Teilnehmern das Ende der Sowjet-Union mit. Wir
kamen am 26. Dezember in Moskau an und sahen auf dem Roten Platz die rote Fahne
mit Hammer und Sichel noch hoch über dem Kreml wehen. Als wir am 2. Januar nach
einer Rundreise über Wladimir und Pereslawl wieder nach Moskau zurück kehrten,
existierte die Sowjet-Union nicht mehr.
Bei allen Tanzreisen flogen wir gewöhnlich bis Moskau, aber im Sommer 1992
organisierte ich eine Reise mit der Bahn. Ich kannte das Gefühl einer solchen Bahnreise
über Berlin, Warschau und Minsk nach Moskau. Man erfährt so die Anzahl von
Kilometern ganz anders, als wenn man fliegt. Die Bahnreise dauert 48 Stunden
mit zwei Übernachtungen im Schlafwagen. Die Teilnehmer dieser Reise kamen aus
England, den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland. Die englischen und
niederländischen Teilnehmer stiegen in Hoek van Holland ein, dem Startpunk des
Zuges. An verschiedenen Bahnhöfen in Deutschland, zuletzt in Berlin, stiegen die
deutschen Teilnehmer zu. Wir hatten einen extra Schlafwagen am Hoek/Warschau
Express zu unserer Verfügung. Täglich wurde an diesen Zug ein russischer
Schlafwagen gekoppelt, der bis Moskau ging. Während der langen Zugfahrt haben
die Teilnehmer sich gegenseitig in den Abteilen besucht und konnten so einander
schon besser kennen lernen. Auch bei dieser Reise war wieder ein Besuch bei
russischen Familien geplant. Wir verweilten einige Tage in Souzdal, einem
kleinen Ort, der zu den Städten des ‚Goldenen Ring‘ von Russland gehört. Ganz
in der Nähe unseres Hotels standen eine Reihe dieser typischen russischen
Holzhäuser. Ich schickte meine Moskauer Mitarbeiterin dort hin, um die Omas die
dort wohnten zu überreden, meine Gruppe als Gäste zu empfangen. Die alten
Frauen waren zunächst sehr zurückhaltend. „Wir
sind nur einfache Menschen. Was können wir diesen gebildeten Leuten aus dem
Westen schon anbieten?“ war ihre Reaktion. Sie sollten lediglich
Kartoffeln, Tomaten und Gurken aus dem eigenen Garten auf den Tisch bringen,
für Fleisch, Fisch und Getränke würden wir sorgen. Zusätzlich stellten wir
ihnen eine finanzielle Vergütung in Aussicht. Nach langem Zögern stimmten die
Frauen zu. Es wurde ein unvergessliches Fest. Zusammen mit den Omas sangen wir
russische Lieder und tanzten alte Volkstänze. Von mancher bekam ich die
Reaktion zu hören, dass sie lange nicht mehr so ein typisch russisches Fest
mitgemacht hatten. Diese Westler sprachen zwar kein russisch, aber sangen,
tanzten und tranken nicht anders, als sie es von Russen gewohnt waren. Es war
ein umgekehrter Kulturschock. Die kapitalistischen Westeuropäer wurden für die
Omas auf einmal Menschen, die nicht viel anders waren als sie selbst.
Als nach dem Ende des Kommunismus die Preise in Russland unverhältnismäßig
stark anstiegen und ich für einen angemessenen Preis kein entsprechendes
Programm mehr anbieten konnte, stoppte ich damit. Die Tanzreisen waren für mich
außerdem oft mit großer Anstrengung verbunden. Es ist manchmal schwierig, mit
Russen Verabredungen zu machen, die dann auch eingehalten werden. Bei jeder
Reise wurde diesbezüglich mein Improvisationsvermögen stark beansprucht und ich
war einige Male ziemlich enttäuscht von den Russen, wenn diese vorher gemachten
Absprachen wieder einmal nicht nachkamen. Meine Mutter und Frans haben mich auf
all diesen Reisen begleitet und sind mir immer helfend zur Hand gegangen. Die
allerletzte Reise nach Russland fand 1993 statt.
Zu Beginn der 90er Jahre ist zwischen mir und Doris Saisch eine Freudschaft
entstanden. Doris tauchte zum ersten Mal 1988 bei einem Kurs in Frankfurt auf,
doch erst 1992 lernte ich sie näher kennen. Die russischen Tänze schienen sie
stärker zu fesseln als die Volkstänze aus all den anderen Ländern, mit denen
sie sich davor beschäftigte und sie begann, meine Kurse häufiger zu besuchen. Doris
wirkte auch sehr engagiert mit bei der humanitären Hilfsaktion, die ich nach
dem Fall des Kommunismus ins Leben gerufen hatte. Diese Hilfsaktion war eine
Reaktion auf die schrecklichen Auswirkungen, die der Zusammenbruch der
Sowjet-Union auf die Lebensqualität meiner Familie, meiner Freunde und Kollegen
hatte. Von den Niederlanden aus schickten meine Mutter und ich beinahe täglich
Lebensmittelpakete und große Taschen mit gut erhaltener getragener Kleidung mit
dem Zug nach Moskau, wo sie weiter verteilt wurden. Doris sammelte in ihren
Tanzgruppen Kleidung und Lebensmittel. Durch eine Bekannte bei der Lufthansa
konnte sie diese Pakete vom Frankfurter Flughafen aus zu einem äußert niedrigen
Tarif nach Moskau senden, wo sie von Aleksej Schilin in Empfang genommen und an
Folklorefreunde und deren Familien verteilt wurden.
Für alle Tanzreisen hatte Slawa Schurov die Treffen mit verschiedenen
Folkloregruppen organisiert. Mit Aleksej Schilin hatte er mich während einer
Tanzreise 1992 in
Kontakt gebracht. Schilin studierte Ethnomusikologie, war ein Student von
Jewgenia Rudnjewa und entwickelte sich zu einem tonangebenden Wissenschaftler
auf dem Gebiet der Feldforschung nach traditionellen Tänzen von Russland. Er
schrieb eine Reihe interessanter Artikel über traditionelle Tänze von Russland
und organisierte Folklorefestivals. Zur Zeit ist Aleksej auch ein gefragter
Choreograf. Er macht Choreografien für viele Ensembles, kürzlich auch für den
Pjatnitski Volkschor. Mit Aleksej verbindet mich seit über vielen Jahren eine
intensive Freundschaft. Er hat oft bei meinen Tanzreisen die Teilnehmer
unterrichtet und wurde 1994 von Doris Saisch als Dozent nach Deutschland
eingeladen, wo er in verschiedenen Städten Tanzkurse gab. Aleksej führt in
jedem Sommer mit seinen Studenten Feldforschungsexpeditionen in den
verschiedenen Regionen von Russland durch. In den Jahren 1993 und 1994 hat auch
Doris an seinen Expeditionen teilgenommen.
Immer mehr Länder und immer weiter weg von zu Hause
In den 90er Jahren kamen Einladungen aus Norwegen, Italien und Österreich
und 1992 bekam ich eine Einladung aus Amerika, um 1993 beim Stockton Folk Dance
Camp in Kalifornien als Dozent mit zu arbeiten. Dieses Folk Dance Camp ist ein
Begriff in den USA und es zog in jener Zeit auch viele Teilnehmer aus den asiatischen
Ländern an. Noch während des Kurses in Stockton bekam ich Einladungen nach
Japan, Hong Kong und Taiwan, wo ich 1994 mein Debüt gab. Dort erfuhr ich was es
bedeutet, wochenlang in asiatischen Ländern zu arbeiten. Das Leben in Hotels und
das Alleinsein machten mich nicht gerade fröhlich. Solange ich unterrichtete spürte
ich es nicht so sehr, aber die Tatsache, dass ich all meine Eindrücke mit
niemandem teilen konnte, machte solche Reisen nicht leicht. In den Zeiten, in
denen ich als Berufstänzer auf Tournee war, konnte ich alle Eindrücke mit
meinen Kollegen teilen. Ich war auch sehr verwöhnt, weil ich in all den Jahren
in meiner Tätigkeit als Tanzlehrer oft mit meinem ‚Zirkus‘ unterwegs war. Die
weiten Reisen so ganz alleine nach Asien und in die USA waren für mich die
schwersten Prüfungen in meinem Leben als Tanzlehrer.
Für 1994 wurde ich zum zweiten Mal nach Stockton eingeladen und ich fragte
an, ob ich Nadja und Frans als meine Begleiter mitbringen könnte, und das wurde
von der Leitung akzeptiert. Wir erhielten die Aufgabe eine russische Party zu
arrangieren, die bei allen Teilnehmern sehr gut an kam. Da in Stockton immer
sehr viele Teilnehmer aus asiatischen Ländern anwesend sind, wunderte es mich
nicht, dass ich für uns drei für 1995 Einladungen nach Japan, Hong Kong und
Taiwan erhielt. Zu dritt waren die Reisen in die USA und in den Fernen Osten
viel leichter zu bewältigen. 1996 waren wir erneut in Stockton und dieses Mal
war auch Doris als Mitglied meines ‚Zirkus‘ mit dabei. Nadja gab in diesem Jahr
zu erkennen, dass sie zum letzten Mal in ihrem Kostüm auftreten würde. Sie
fühlte sich dafür langsam zu alt und wollte sich von der aktiven Teilnahme an
meinen Kursen zurückziehen. Sie reiste zwar noch mit zu den jährlichen
Sommertanzwochen in Deutschland, doch auch das Singen mit den Teilnehmern wurde
allmählich eine zu große Belastung für sie. Weil sie aber ihre ‚Tanzkinder‘ immer
gerne wiedersehen wollte, war sie noch einige Male passiv mit dabei, bis auch
das nicht mehr ging.
1998 war ich zum letzten Mal für einen Wochenendkurs in Japan. Dieser Kurs
fand für japanische Begriffe in kleinem Rahmen statt. Es waren ‚nur‘ 70
Teilnehmer. In Stockton stand ich oft vor einer Gruppe mit 100 Teilnehmern,
zusammengedrängt in einen Raum, in dem sich normalerweise nur 50 Personen
bewegen können. In Japan bestand die kleinste Gruppe aus 200 und die größte aus
450 Personen. Bei solch großen Gruppen konnte ich nicht mit den
Teilnehmern im Kreis tanzen, sondern hatte die Position des Lehrers, der in der
Mitte alles vormacht. Ich unterrichte gerne und liebe es, Menschen zu fördern
und zu begleiten. Doch in solch enorm großen Gruppen ist das nahezu unmöglich.
Da fühlte ich mich dann eher als Handelsreisender in russischen Tänzen und
nicht als Tanzlehrer. Man darf wohl auch kaum den Anspruch haben, nachhaltigen
Unterricht zu abzuhalten. Es läuft eher darauf hinaus, die große Masse zu vergnügen,
in Bewegung zu halten und sich mit der Tatsache zufrieden zu stellen, dass
viele der Teilnehmer nur etwas oberflächlich Folklore ‚shoppen‘ wollen. Die
Befriedigung in seiner Arbeit muss man dann in der großen Anzahl der CDs sehen,
die man verkauft hat.
Im Sommer 1998 fand mein erster Kurs in Österreich statt. Vom Bildungshaus
Schloss Puchberg erhielt ich die Einladung, mit Nadja und Frans einen
Wochenendkurs mit einem russischen Abend zu gestalten. Nach diesem Kurs folgten
weitere Einladungen aus verschiedenen Orten Österreichs. So auch 1999 vom
Bildungshaus Großrußbach, wo ich auch 2001 zusammen mit meinem ‚Zirkus‘ einen
Sylvesterkurs gestaltet habe. Wir lehrten die Teilnehmer ukrainische und
russische Lieder, die zum Jahreswechsel gesungen werden und wir feierten drei
Mal den Beginn des neuen Jahres. Zum ersten Mal um 22 Uhr Moskauer Zeit, dann
um 23 Uhr für die Ukrainer und um Mitternacht waren wir selbst an der Reihe. Es
war das letzte Mal, dass Nadja bei einem Kurs mitarbeitete. Ihre Gitarre ist
seitdem nicht mehr aus ihrem Futteral gekommen, ebenso meine Balalaika. Eine
Epoche war abgeschlossen.
Zusammenarbeit mit dem Folklore-Ensemble Ozorniye Naigrishi
1998 wurde ich für einen Wochenendkurs nach Bochum eingeladen, bei dem ich
mit Livemusik arbeiten sollte. Die Musik sollte vom Ensemble Ozorniye Naigrishi
(ON) aus der Stadt Donezk gespielt werden. Meine Mutter ist im Donezk-Gebiet
geboren und es stellte sich heraus, dass Bochum und Donezk Partnerstädte sind.
Die Zusammenarbeit mit ON erwies sich vom ersten Moment an als Volltreffer. Ich
habe gegen Ende der 80er Jahre mit verschiedenen Folkloregruppen zusammengearbeitet,
doch nach dem Ende des Kommunismus entstand in Russland eine Junglementalität.
Die eine Gruppe war unzuverlässig, eine andere hatte unrealistische finanzielle
Erwartungen und verdächtigte mich der schamlosen Ausbeutung. Noch schlimmer
war, dass einige Mitglieder beider Ensembles sich gegenüber meinen
Kursteilnehmern nicht zu betragen wussten. Nach einer Reihe heftiger
Enttäuschungen betrachtete ich die Arbeit mit russischen Folkloreensembles als erledigt.
Aber die Zusammenarbeit mit ON verlief ausgezeichnet. In Zusammenarbeit mit
Syncoop Produkties entstanden mit ON sechs CDs, vier davon mit einem
Tanzprogramm von mir. In den Niederlanden trat ON bei Festivals, in Theatern
und Clubs vor tausenden von Menschen auf. Außerdem arbeiteten sie mit bei
meinen Tanzkursen in den Niederlanden, Deutschland und der Ukraine. In
Zusammenarbeit mit Doris Saisch organisierte ich 2001 und 2002 Tanzreisen nach
Slawjanagorsk / Ukraine, bei denen auch ON mitarbeitete. Die Teilnehmer dieser
Reisen kamen aus den Niederlanden, Deutschland, der Schweiz, Österreich,
England und Amerika. Unsere letzte Tanzreise ging 2007 nach Schatsk im Westen
der Ukraine. Auch das Kapitel Tanzreisen sah ich mit dieser Reise als
abgeschlossen.
Intensiv-Seminare
Bei den Wochenendkursen in Deutschland sah ich nach einigen Jahren das
Niveau der Teilnehmer, die regelmäßig meine Kurse in den verschiedenen Städten besuchten,
deutlich steigen. 1997 ergriff Doris Saisch die Initiative und rief die
Intensiv-Seminare ins Leben, die zum Ziel hatten, tiefer auf die verschiedenen
Aspekte des russischen Volkstanzes einzugehen und bereits vorhandene
tanztechnische Kenntnisse auf diesem Gebiet zu verbessern. Die Teilnehmer legen
sich für vier aufeinander aufbauende Wochenendseminare pro Jahr fest. Diese
erste Initiative ist zu einer Studiengruppe herangewachsen, in der die meisten
der Teilnehmer bereits seit 1997 mit großem Enthusiasmus teilnehmen. Diese bis
heute bestehende Studiengruppe tanzt auf sehr hohem Niveau – ein Ergebnis von
so vielen Jahren intensiver Arbeit. In Österreich und England entstanden
2004 ebenfalls Intensivkurse, die das gleiche Ziel anstreben, wie die
Studiengruppe in Deutschland.
Nun, da ich dies alles schreibe, habe ich mein pensionsberechtigtes Alter schon
erreicht. Tanz zu unterrichten finde ich immer noch schön, aber große
Veranstaltungen und Handel in Schritten und Musik habe ich in meinem Leben nun
doch genug gehabt. Auch der Stress und die Schwierigkeiten, die mit der
Organisation von Tanzreisen gepaart gingen, werden mir zu viel. Ich kann auf
ein turbulentes Leben als Tanzlehrer für russische Tänze zurückblicken und bin
dankbar dafür, dass mir so viel Erfolg zuteil wurde. Solange meine Beine mich
tragen, werde ich unterrichten. Wenn ich mit den Teilnehmern meiner
Intensivgruppen aus Deutschland, Österreich und England im Kreis mittanze,
fühle ich mich als ein glücklicher Mensch. Ich muss teilen können. Dieses
Bedürfnis ist tief in mir verankert und ist eine Eigenschaft, die ich von
meiner Mutter geerbt habe. Zusammen tanzen und sich als Teil eines Ganzen
fühlen, seine Gedanken ausschalten und genießen – das ist für mich russischer
Tanz. Ich begann als Teenager russisch zu tanzen, weil ich dem Publikum mit
meinen spektakulären Hocken und Sprüngen imponieren wollte. Doch der Weg den
ich ging, führte schließlich zu der Entdeckung, dass der russische Tanz eine
viel wichtigere Komponente enthält, und das ist Tanzfreude mit anderen teilen.
Ich hoffe, dass ich den unendlich vielen Teilnehmern, die ich in all den Jahren
unterrichtet habe, diesen Weg habe zeigen können.
© Hennie Konings
Übersetzung: Doris Saisch
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