Das Tanzensemble Berjoska nach 1959 - die zweite Phase
Eine Vorführung im Theater mit ausschließlich Mädchentänzen - wie schön die auch sind - ist für das Publikum ziemlich einseitig. Spielerei auf der Bühne zwischen Mädchen und Jungen bietet für Choreographen doch wesentlich mehr Möglichkeiten. Das Publikum im Ausland denkt bei russischem Tanz auch eher an Männertänze, mit hohen Sprüngen und spektakulären Hockschritten.
Nach vielen erfolgreichen Jahren war es Nadjeschdina in 1959 gelungen, mehr Subventionsgelder vom Kulturministerium zu bekommen. Damit konnte sie ihr Tanzensemble reorganisieren und erweitern. Es kam eine Männergruppe von Tänzern dazu und die vier Bajane wurden mit weiteren Musikinstrumenten, wie Balalaikas und Domras (Zupfinstrumente), ergänzt zu einem allgemeinen russischen Volksmusikorchester. Diese zweite Phase von Berjoska war eine rechte Steigerung und das Ensemble hatte in der Sowjet Union und auch im Ausland in der neuen Phase mehr und mehr Erfolg.
Das folgende Programm von Ensemble Berjoska wurde aufgenommen während einer Theatervorführung in 1962 und auf sowjetischem Fernsehen ausgestrahlt. Als erste Verbesserung fällt die Musik auf. Die Partituren für die vier Bajane waren neu arrangiert worden für Orchester. Der Birken-Reigen mit Orchesterbegleitung hatte alleine schon damit an Schönheit gewonnen. Auch die Übergänge der choreographischen Figuren wurden perfektioniert. Die Tänze Fasching und Herbstjahrmarkt, die ursprünglich nur für Mädchen choreographiert wurden, sind umgearbeitet worden in eine Fassung für Mädchen und Jungen. Die vier kleinen Buben, so wie es in der alte Choreographie von Fasching war, wurden damals von Mädchen getanzt weil es nur Mädchen gab. In der neuen Bearbeitung hat Nadjeschdina es so belassen obwohl Jungens vorhanden waren. Insgesamt muss man sagen, dass Berjoska in der zweiten Phase auf einer höhere Ebene angekommen war.
- Chorowod Berjoska (Birkenreigen)
- Worotsa (Tortanz) (6:15)
- Trojka (10:40)
- Prjalitsa (die Spindel) (13:10)
- Sibirische Quadrille (17:30)
- Lyrischer Mädchentanz (21:30)
- Karusel (25:25)
- Djewitschi perepljas (Mädchen Tanz) (30:30)
- Tanjets s platkom (Tan mit das Tüchlein) (34:30)
- Maslenitsa (Fasching) (38:00)
- Wals Berjoska (Birkenwalzer) (45:00)
- U kolodtsa (Bei der Brunnen)(51:10
- Weseni chorowod (Frühlingsreigen)(56:00)
- Freundinnepolka (1:01:00)
- Sudaruschka (Kleine Herrin)(1:03:40)
- Prochodka (1:08:40)
- Podmoskovnaja polka (Polka aus Moskauer Gebiet) (1:14:00)
- Jewgeni Kusnjetsov spielt solo auf Bajan (1:22:00)
- Na osjennaja jarmarka (Auf der Herbstjahrmarkt)(1:26:30 )
https://www.youtube.com/watch?v=clJttLaVItk
Nadjeschdina und ihr Ensemble Berjoska waren in den sechziger- und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der ganzen Welt berühmt geworden und überall war das Publikum begeistert. Auch die meisten Neuschöpfungen von Nadjeschdina, die sie nach 1959 machte, waren schön, dynamisch und wirkungsvoll.
Einige Beispiele, so wie in eine Vorführung in Moskau in 2012
Karusell
https://www.youtube.com/watch?v=gMxv7utQV1s
Prasdnitschnaja pljasowaja (Fest Tanz)
https://www.youtube.com/watch?v=3NTp8AYhV4M
Aber auch Choreographien für nur Männer hatte Nadjeschdina gemacht, so wie hier Cholostjaki (die Junggesellen)
https://www.youtube.com/watch?v=Dn-r7zsksP0
Auch einige spätere Mädchenreigen waren ein Beweis von Nadjeschdinas außergewöhnlichen Kreativität.
Sewernij chorowod (Reigen aus dem Norden)
https://www.youtube.com/watch?v=3rzDhbAXz40
Sudaruschka (die kleine Herrin)
https://www.youtube.com/watch?v=gl7Rd_W
Die lyrischen Tänze, die Nadjeschdina in den siebziger Jahren für Tänzerinnen und Tänzer neu kreierte, kann ich leider nicht als ihre besseren Choreographien bezeichnen, so wie die folgenden.
Ein lyrischer Reigen für Mädchen und Jungens: Usori (Muster). Eine Aufnahme aus 2011
https://www.youtube.com/watch?v=zOXd_ZPybZE
Balalaika
https://www.youtube.com/watch?v=wba7BhwdV7U
Weitere Entwicklungen bei Berjoska
In 1979 starb Nadjeschdina. Bis dahin waren nur Choreographien von ihr im Repertoire. Die damalige Solistin vom Ensemble, Mira Koltsowa, hatte ihre erfolgreiche Bühnenjahre in den siebziger Jahren abgeschlossen und war schon als Assistentin von Nadjeschdina und Probeleiterin bei Berjoska tätig. Nach dem Tod von Nadjeschdina wurde sie künstlerische Leiterin von Berjoska.
Auf der israelischen Website ISRAGEO in russischer Sprache (in Israel leben heute mehr als 800.000 Russisch sprechende) lese ich eine Publikation vom 8. Februar 2014 von Semyon Kiperman mit der Überschrift 'Berjoska hat jüdische Wurzeln'. In seinem Artikel legt Kipermann einen starken Akzent auf Nadjeschdinas jüdische Wurzeln. Mit Erstaunen lese ich dann, dass Mira Koltsowas eigentlicher Name Myriam Ravitscher ist. Ihre jüdischen Wurzeln war mir unbekannt. Das erinnert mich an eine Aussage von Professor Slawa Schurov. Auf einem Kongress über russische folkoristische Tradition in 1993 in Moskau hatte er sehr negativ über den russischen Bühnentanz gesprochen. Er erklärte, die Bühnenfolklore Russlands basiere überhaupt nicht auf der überlieferten Folklore Russlands, sondern auf der französischen Ballet-Tradition des 19. Jhdt. Und diese sei nicht von Russen, sondern von Juden kreiert worden.
Die erste Periode unter Maria Koltsowas Leitung zeigte dem Ensemble unverändert die alten Choreographien von Nadjeschdina. Aber Mitte der achtziger Jahre schuf Mira Koltsowa ihre ersten eigenen Choreografien. Es war der choreographische Reichtum von Nadjeschdina, den das Publikum immer schätzte und erwartete und das wurde auch weiter gezeigt. Neue Tänze schöpfen mit eigener Signatur, das war für Koltsowa keine leichte Aufgabe. Koltsowas Ziel als Leiterin war es, den lyrischen Reigentänzen immer einen prominenten Platz im Programm zu geben. Alle choreographischen Effekte, die Koltsowa in ihren ersten eigenen Mädchenreigen zeigte, waren im Grunde nichts Neues und standen nach meine Meinung leider im Schatten von den vielen Reigen von Nadjeschdina.
Hier einige Beispiele von Mira Koltsova’s Choreographien, so wie diese zwei lyrische Reigen in Nadjeschdinas Stil:
Kruschewnitsi (die Klöpplerinnen)
https://www.youtube.com/watch?v=n-OnYr8Sysg
https://www.youtube.com/watch?v=MVdXhFiYrW8&list=PL31C120C228CDE056
Mira Koltsowa machte auch Werke nach Themen so wie Petruschka (Kasperl Theater)
https://www.youtube.com/watch?v=-Pi9o2eRpqE
Auch choreographierte Koltsowa Tänze mit nostalgischer Thematik. Sie lässt in der relativ neuen Choreographie „Na tantsploschadkje“ (auf dem Tanzplatz) alle Tänzerinnen in altmodischen, hübschen Kleidchen tanzen. Die Jungens aber sind gekleidet in Soldaten-Uniformen, so wie sie in der Sowjetischen Roten Armee getragen wurden.
https://www.youtube.com/watch?v=t078ilySSbk
Neue Zeiten
In 1992 kam es zum Zusammenbruch der Sowjet-Union. Mit den neuen Zeiten kamen neue Probleme. Berjoska’s Zuhause, mit Proberäumen usw., war in einer früheren Klosteranlage in Zentrum Moskaus in der Petrowka Strasse. Diese Anlage wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjet-Union der Russisch Orthodoxen Kirche wieder zurückgegeben und Berjoska wurde untergebracht in einem Klubgebäude in einem Außenbezirk mit viel zu kleinem Proberaum. Vorführungen gab es kaum noch und viele TänzerInnen suchten sich einen Job in Kabarets, Kasinos in ‚booming’ Moskau oder manche Tänzerin fand mit Bauchtanz einen viel besser bezahlten Job in Kabarets in die Türkei.
Mira Koltsowa’s Talent, das nicht in erster Linie mit Tanz und Choreographie zu tun hat, ähnelte jenem ihrer Vorgängerin Nadjeschdina. Sie knüpfte die richtigen Kontakte mit Leuten auf einer ziemlich hohen politischen Ebene. Dadurch hat Berjoska wieder ein bessere Unterkunft mit großem Proberaum und im Lande sind sie wieder häufig im Theater zu sehen. Nach vielen Jahren ohne wichtige Auslandtournee ist Berjoska jetzt auch wieder regelmäßig in vielen Ländern der Welt zu sehen. Vor kurzem war Berjoska wieder zu Gast in Ländern, die mit Russland Freundschaftbeziehungen hatten oder sie wieder versuchen zu verbessern. Solche Auslands-Tourneen waren in der Sowjet Zeit üblich und mit viel Subventionsgeld unterstützt.
Was die russische Bühnen-Volkstanz-Kunst betrifft ist im Westen bei Theateragenturen heute wenig Interesse. Aber es gibt noch Länder wie China, Süd-Amerikanische Länder oder Nord Korea, wo für Berjoska noch sehr viel Interesse besteht. Sowohl von der Seite des Publikums als auch bei den Politikern. So war Berjoska wieder mit viel Erfolg aufgetreten in Nord-Korea und China, wie es in der nächsten Aufnahmen zu sehen ist. Die erste Gelegenheit war der Geburtstag von Kim Jong II. Es ist ein Ausschnitt von den Nachrichten im russischen Fernsehen und es erinnert sehr an die ‚guten alten’ Zeiten der Sowjet Union.
https://www.youtube.com/watch?v=sky3yhx1ZHI
https://www.youtube.com/watch?v=AZLItyIc2fg
Die drei wichtigsten Sowjet-Choreografen
Ich hatte seit den 60er Jahren die Werke der drei wichtigsten Choreografen der Sowjet-Union in Theatern in Moskau oder den Niederlanden gesehen.
Tatjana Ustinowa’s choreographische Beiträge die sie für den Pjatnitski Volkschor machte, waren wahre Juwelen, die mir immer noch am besten gefallen. Ihre Choreographien waren auch die besten Beispiele, die deutlich Ähnlichkeiten zeigten mit der folkloristische Tradition Russlands. Leider erleben die besten Werke von Tatjana Ustinowa nicht oft eine Wiederaufführung bei Pjatnitski Volkschor. Heute machen verschiedene andere Choreografen Tänze für das Repertoire. Und einige kann man einigermaßen als Weiterentwicklung sehen von Ustinowas Arbeit, aber sehr deutlich mit eigener Signatur.
Die Darbietungen des Tanzensembles von Igor Mojsejev fand ich nicht so besonders gut. Mojsejevs russische Tänze machen nur einen kleinen Teil des Repertoires aus und sie waren in choreografischer Hinsicht denen von Ustinowa und Nadjeschdina weit unterlegen. Das Tanzensemble Igor Mojsejev ist in Russland immer noch sehr beliebt und soweit ich informiert bin werden immer noch nur Moiseyevs Choreographien aufgeführt. Im Gegensatz zum Pjatnitski Volkschor, der mehr traditionelle Folklore zeigt, sieht der Zuschauer in heutigen Vorstellungen bei Moiseyevs Tanzensemble noch immer das, was seine Arbeit charakterisiert: das verblüffend hohe technische Niveau der TänzerInnen, die äußerst gleichmäßige Ensemblearbeit, massale Tänze in Uniformen der russischen Armee-Einheiten – kurz gesagt eine altmodische Show, die die Erinnerung an frühere Zeiten lebendig hält: Die Visitenkarte der Sowjet-Union.
Nadjeschdina’s Werke werden bei Berjoska bis heute noch vorgeführt. Die meisten Choreografien von Nadjeschdina sind vom Publikum im Innen- und Ausland immer noch gerne gesehen. Mira Kolzowa, die heutige Choreografin von Berjoska, ist vernünftig genug um als künstlerische Leiterin ihre eigenen Choreographien nicht all zu prominent nach vorne zu schieben. Ihre Choreografien knüpfen mehr oder weniger an die alten Werke von Nadjeschdina an, aber stehen doch im Schatten von den meisten Werke von Nadjeschda Sergejewna Nadjeschdina.
Hier geht´s zum ersten Teil des Artikels 'Das Tanzensemble Berjoska'
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