Körperkompetenz, Heilung, Spiritualität:
„Ich drehe mich seit über einer halben Stunde ohne Unterbrechung – plötzlich wird alles ruhig, sehr ruhig, in mir und rund um mich, ich habe das Gefühl, als ob ich in einer Säule wäre, als ob ich still stünde, verankert im Boden, mit allem verbunden. Nicht mehr ich drehe mich, sondern die Welt dreht sich um mich herum…“ Das war mein erstes Trance-Erlebnis beim Drehtanz. Es war überwältigend!
Längeres Drehen um die eigene Achse kann zu einem veränderten Bewusstseinszustand und zu einer kinetischen Trance führen, die sich durch Euphorie und eine sogenannte „entspannte Hochspannung“ auszeichnet. Zeit- und Raumwahrnehmung verändern sich während dessen stark. Dabei werden die Sinne nicht ausgeschaltet, sondern im Gegenteil, eher intensiviert.
Die Monotonie, die durch Wiederholung der immer gleichen Dreh-Bewegungen erzeugt wird, fördert das Aufgeben der Kontrolle, das Ausschalten des logisch-reflektierenden Bewusstseins und somit die Veränderung des Wachbewusstseins. Die Durchlässigkeit des Bewusstseins für unbewusste Informationen und Impulse in diesem Zustand legt die Vermutung nahe, dass die Erfahrung der kinetischen Trance innere Veränderungen von früheren Konditionierungen unterstützt. Dieser Aspekt vermag – neben den anderen Aspekten wie z.B. der Schulung von Achtsamkeit und Körperwahrnehmung – die nachhaltigen Veränderungen der eigenen Persönlichkeit zu erklären, wie Berichte sowohl von traditionellen Drehtanz-Ritualen als auch von modernen Adaptionen des Drehtanzes zeigen.
Sufismus und tanzende Derwische
Die Wurzeln des Drehtanzes sind im Sufismus, der islamischen Mystik, zu finden. Weltweit existiert eine Vielzahl an verschiedenen Orden und Bruderschaften, die Drehtanz und andere Trance-induzierte Bewegungen in unterschiedlicher Form praktizieren. Sie sind von Nordafrika bis nach Indien verbreitet. Die Angehörigen dieser Ordensgemeinschaften werden häufig als Derwische bezeichnet. Seit Jahrhunderten nützen diese den Drehtanz als einen Weg, um zu mehr Erkenntnissen über sich selbst und transzendentale Aspekte zu kommen und sich schließlich mit dem Göttlichen zu verbinden. Aus sufischer Sicht unterstützt die Trance die Heilung von Körper, Geist und Seele. Zu den in Europa bekanntesten zählen die tanzenden Mevlevi-Derwische in der Türkei, deren Ursprung auf den berühmtem islamischen Mystiker Mevlana Dschelaleddin Rumi zurückgeht, der im 13. Jahrhundert in der zentralanatolischen Stadt Konya lebte.
Aus dem Derwischdrehen in einem mystischen Kontext hat sich in Ägypten eine Kunsttanzform für die Bühne entwickelt, der sogenannte Tanura-Tanz. Die Tänzer drehen sich um die eigene Achse und zeigen dabei Kunststücke mit bis zu drei Röcken, den bunten Tanuras, die sie um Bewegungen mit Kopf, Armen und Oberkörper bereichern.
Auch wenn der Derwischtanz auf den Bühnen und in der Öffentlichkeit weitgehend männlich geprägt ist, wurde und wird er in vielen Regionen auch von Frauen praktiziert. In der Türkei nehmen seit dem 20. Jahrhundert Frauen an den Ritualen des Mevlevi-Ordens teil. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass Frauen auch schon viel früher Zusammenkünfte von Sufis besuchten. Mehr als der orthodoxe Islam bot der Sufismus ihnen die Möglichkeit, aktiv am religiösen und sozialen Leben teilzunehmen.
Die Essenz weitergeben
Sowohl in meinen Workshops als auch bei meinen Bühnenperformances ist es mir wichtig, die Essenz des Drehtanzes weiterzugeben, ohne dabei seine vielfältigen Ausprägungen zu vernachlässigen. Bei meinem Auftritt gemeinsam mit meiner Drehtanzpartnerin Ingrid Goritschnig zur persischen Lifemusik von Hamidreza Ojaghi im Weltmuseum Wien im Dezember 2017 war es mein Ziel, die viele Jahrhunderte alte Körperpraxis, die ihren Ursprung in einem mystischen und rituellen Kontext hat, neu interpretiert auf die Bühne zu bringen. Anfangs ließen wir das Publikum am meditativen Trancezustand teilhaben, der sich durch die Gleichförmigkeit der immer wiederholenden Drehbewegungen einstellte. Danach folgte ein Spiel mit den Derwisch-Röcken, mit den Armen und Händen in Anlehnung an den ägyptischen Tanuratanz. Bei meinen Workshops lasse ich die TeilnehmerInnen ihre eigene Schritttechnik entwickeln, die Drehrichtung frei wählen und durch Experimentieren herausfinden, ob sie das Drehen eher meditativ oder technisch, mit oder ohne Derwisch-Rock gestalten wollen. Bei all dem möchte ich, dass sie der Essenz des Drehens gewahr werden, gleichzeitig die vielen verschiedenen Aspekte kennenlernen und dabei schließlich ihren eigenen Weg der Drehtanzpraxis finden.
Wie ist es möglich, sich ohne Schwindelgefühl zu drehen?
….eine Frage die mir häufig gestellt wird. Die Angst vorm Schwindel hält viele Menschen davon ab, den Drehtanz auszuprobieren. Die Derwische sagen, dass ein Drehender „mit den Füßen sieht“, weil die Raum-Orientierung über die Fußsohlen erfolgt. Die Kontrolle des Körpers wird vom Kopf abgegeben und wird dem gegenüberliegenden Pol, den Füßen, übertragen. Somit ist die Steuerung des Körpers unmittelbar mit dem Spüren des eigenen Körpers verknüpft. Genau das ist der Schlüssel, um aus dem Schwindelgefühl auszusteigen! Sobald dies gelingt, ist auch der Schwindel überwunden und man kann sich sehr lange drehen. Da man sich auf einige Sinnesorgane, insbesondere die visuelle Wahrnehmung und das Gleichgewichtsorgan, nicht in gewohnter Weise verlassen kann, wird die Tiefensensibilität des Körpers besonders gut ausgebildet. Mit der Entwicklung dieser Tiefensensibilität, die auch als kinästhetischer Sinn bezeichnet wird, geht eine verbesserte Steuerung von Bewegungsabläufen einher, die die Körperkompetenz insgesamt steigert und auch die Bewegungseffizienz für andere Tanzstile verbessert. Darüberhinaus ist der Drehtanz ein besonders geeignetes Training für mehr Präsenz und Achtsamkeit. Denn während des Drehens ist es kaum möglich gedanklich abzuschweifen. Vor allem zu Beginn ist es notwendig mit voller Aufmerksamkeit dabei zu sein.
Kulturerbe
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass im Jahr 2005 das Drehtanzritual der Mevlevi von der UNESCO zum Immateriellen Kulturerbe erklärt wurde. Das „Übereinkommen zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes“ schützt Ausdrucksformen wie Tanz, Theater, Musik, Handwerkskünste, mündliche Überlieferungen sowie Rituale, Feste, Wissen und Praktiken in Bezug auf die Natur und das Universum. Das Ziel ist, das Immaterielle Kulturerbe weltweit sichtbar zu machen und das Bewusstsein um die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen zu stärken. In diesem Sinne möchte ich meinen Beitrag dazu leisten. Meine Vision ist es, dass der Drehtanz in Österreich und Europa bekannter wird und – ähnlich wie andere Meditationstechniken und Körperübungen - von viel mehr Menschen praktiziert wird!
Workshoptermine:
Mannersdorf/Niederösterreich: 7./8. Juli
Wien Studio Goldegg: 14./15. September
Wien Studio Goldegg: 12./13. Oktober
Anmeldung & weitere Infos unter: www.juliafraunlob.at
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