Beinahe jeder weiß, dass die Balalaika das Volksmusikinstrument der Russen ist und selbst die Form dieses Zupfinstrumentes wird bei vielen bekannt sein. Aber wenige werden wissen, dass die Balalaika, so wie wir sie heute kennen, erst 1888 entstanden ist. Die russische Ziehharmonika ist mehr als fünfzig Jahre älter. In Russland werden bis heute auch Musikinstrumente gespielt, die viele Jahrhunderte älter sind als die Ziehharmonika oder die Balalaika. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden einige Musikinstrumente durch die ‘neue’ Ziehharmonika und die Balalaika verdrängt.
Bevor diese beiden an Popularität zunahmen, waren die Drehleier und der Dudelsack auch in Russland gebräuchliche Musikinstrumente, auf denen die Bauern ihre Lieder und Tänze begleiteten. Durch Musiker/Folkloristen wurden diese in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ‘wiederentdeckt’ und anhand von Museumsexemplaren Kopien gebaut. So tauchten sie wieder auf aus der Versenkung, auch wenn die überlieferte Tradition verloren gegangen ist und heute nur noch professionelle Musiker, Ethno-Musikologen und Amateure solche Instrumente spielen. In Russland existieren große Volksinstrument-Orchester, die in Konzertsälen Aufführungen geben. Die Musiker dieser Orchester wurden am Konservatorium ausgebildet und sind oft wahre Virtuosen. Auch auf dem Amateursektor kann man überall in Russland solche Orchester antreffen und oft zeigen diese Leistungen von verblüffend hohem Niveau. Aber es gibt auch Musiker und Dorforchester, die nach althergebrachter Tradition musizieren und für die Musiknoten mathematischen Formeln gleichkommen. Auf den Dorfplätzen bei regionalen Volksfesten kann man sie immer noch hören.
Im Wladimir-Gebiet, das nordöstlich von Moskau liegt, ist eine alte Blasorchestertradition bewahrt geblieben. Die Instrumente, die man in einem Wladimir-Blasorchester hört, sind Zhalejka und Rozhok. Die Zhalejka ist ein Schilfblasinstrument mit einem Doppelröhrchen. Ihr Name ist abgeleitet von dem russischen Wort zhaletj, was Mitleid haben oder beklagen bedeutet. Der Klang der Zhalejka ist dann auch schrill und kläglich. Rozhok bedeutet wörtlich kleines Horn. Der Rozhok ist ein aus Holz gefertigtes Horn – oft mit Bast umwickelt – auf dem mit einer Trompetentechnik geblasen wird.
Schäfer benutzten in früheren Tagen Blasinstrumente – auch die Zhalejka – um ihre Herde zusammen zu halten oder um anderen Schäfern Signale zu senden. Ein guter Schäfer schaffte es, seine eigenen Kühe, Ziegen oder Schafe nur durch Klang und Melodie seines Instrumentes zu leiten. Im 17. Jahrhundert wurde in Russland durch die Kirche ein Verbot erlassen für instrumentale Musik. Die einzige Musik, die als passend betrachtet wurde, Gott auf rechte Weise zu dienen und zu ehren, war der Gesang, der durch die menschliche Stimme hervorgebracht wurde. Instrumentale Musik galt als ketzerisch. Bis zum heutigen Tag existiert in Russland ein enormer Schatz an aufgezeichneten Liedern, die zu einer Jahrhunderte alten polyphonen Gesangtradition gehören. Die überlieferte instrumentale Musik hebt sich deutlich davon ab. Die einzigen, die gänzlich von dem kirchlichen Verbot freigestellt wurden, waren die Schäfer. Dies erklärt, dass vor allem gerade aus dieser Berufsgruppe noch viele der sehr alten Melodien überliefert und bewahrt geblieben sind.
Seit dem Mittelalter zogen die Skomorochi durch Russland. Das waren Spielleute, die von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt zogen und dort ihre Vorstellungen gaben. Um das Volk zu amüsieren machten sie von allen möglichen theatralischen Darbietungen Gebrauch. Dazu gehörten das Kasperletheater, tanzende Bären, Lieder und Tänze. Das alles wurde mit instrumentaler Musik verschönert. Sie benutzten verschiedene Instrumente, u.a. auch die Zhalejka, die Gusli (Psalter) und die Domra (Zupfinstrument). Nach dem erlassenen Verbot von instrumentaler Musik wurden diese Skomorochi gnadenlos verfolgt und ihre Musikinstrumente als Teufelszeug verbrannt. Für lange Zeit wurden die Skomorochi gezwungen in den Wäldern ein zurückgezogenes Dasein zu führen. Die Wälder im Brjansk-Gebiet dienten ihnen als eine ihrer Zufluchtsstätten. Dadurch sind gerade in dieser Gegend noch relativ viele Beispiele von alter überlieferter instrumentaler Musiktradition zu finden.
In St. Petersburg wurde am 20. März 1888 von dem russischen Aristokraten Wassili Andrejev (1861-1918) mit dem von ihm gegründeten Kreis von Liebhabern des Balalaikaspiels ein Konzert gegeben. Die Balalaika hatte Andrejev auf dem Landgut seiner Eltern kennen gelernt als ein einfaches dreisaitiges Zupfinstrument mit einem dreieckigen Resonanzkörper, auf dem die Bauern spielten. Andrejev gefiel dieser Klang und ließ auf der Basis dieser primitiven Volksbalalaika von einem renommierten Geigenbauer in St. Petersburg eine verbesserte Version bauen, entwarf sie in verschiedenen Größen nach dem Vorbild der Geige, der Bratsche, dem Cello und dem Kontrabass. 1896 tat er das gleiche mit der Domra, einem älteren Instrument, dass schon in Schriften aus dem 16. Jahrhundert erwähnt wird. Andrejev schrieb selber für sein Orchester Bearbeitungen von russischen Volksliedern, Romanzen, Polkas, Walzern und dergleichen. Mit seinem Orchester brachte Andrejev für diese Zeit schicke Salonmusik zu Gehör für die wohlhabenden Bürger des St. Petersburg des 19. Jahrhunderts. 1889 sahen und hörten die Besucher der Weltausstellung in Paris im russischen Pavillon das Phänomen von Andrejevs Balalaika Orchester.
Von diesem Moment an war die Balalaika auf dem Vormarsch und wurde in der ganzen Welt bekannt.
Nach dem Vorbild des Erfolges von Andrejev wurde 1919 in Moskau ein ähnliches Balalaika Orchester von Boris Trjanovski und Pjotr Aleksejev gegründet – beide Musiker in der Tradition von Andrejev. 1940 wurde Nikolaj Ossipov Dirigent dieses Orchesters. Er gab ihm einen neuen Impuls, indem er das Repertoire mit Werken klassischer Komponisten ausweitete und auch durch Komponisten speziell für das Orchester für Volksinstrumente Stücke komponieren ließ. Das Moskauer Balalaika Orchester erhielt nach seinem Tod auch seinen Namen. Das Orchester, das Andrejev gründete, existiert in St. Petersburg noch immer als Andrejev Orchester, auch wenn es im Laufe der Jahre in den Schatten des Ossipov Orchesters geraten ist, nur weil alles aus der Hauptstadt der Sowjet-Union aus kulturpolitischen Gründen ein höheres Niveau und einen höheren Status haben musste.
In den Jahren als die Kommunisten an der Macht waren, wurde alles vom Volk verherrlicht – also auch die Volksmusik. An den Konservatorien und Kulturinstituten der Sowjet-Union konnte man als Hauptfach Balalaika, Bajan (Knopf-Akkordeon) u.s.w. studieren. Für Musiker die Volksinstrumente spielten, wurden auch Wettbewerbe ins Leben gerufen. Oft wurden von Musikern Preise eingeheimst, die auf der Balalaika Kompositionen von u.a. Rachmaninov und Tschaikowski etc. spielten oder auf dem Akkordeon Orgelwerke von Bach interpretierten. In der kulturpolitischen Ideologie passte es gut, die Schöpfungen des einfachen Volkes zu einer hohen Kunstform zu erheben. Im Russland von heute ist es immer noch möglich, diese Instrumente als Hauptfach zu studieren. Doch die Zahl der Musikstudenten, die ein Volksinstrument als Hauptfach wählt, ist in der heutigen Zeit wegen der schlechten Chance auf ein einigermaßen annehmbares Einkommen drastisch kleiner geworden.
Am 2. März 1911 gründete Mitrofan Pjatnitski einen Chor, der aus Bauern bestand, die aus Dörfern der verschiedenen südlichen Regionen Russlands kamen. Pjatnitski war ein Folklorist mit großem Interesse für alte überlieferte polyfone Gesangtradition der Dorfbewohner von Russland. Die russischen Städter kannten einen mehr westlich orientierten Lebensstil. Beim Adel und der Oberschicht wurde selbst die französische Sprache lieber gesprochen als die russische. Der Bauernstand lebte nicht anders als Jahrhunderte zuvor und übte die uralten Traditionen aus, in denen noch viele Bräuche einen Platz hatten, die allesamt Rituale aus vorchristlichen Zeiten waren. Die Bauern wurden von den Städtern als rückständige Bevölkerungsgruppe betrachtet. Pjatnitski bot mit seinem Chor dem Moskauer Konzertpublikum ein Konzert an, in dem alte traditionelle Lieder, Tänze und Musik zu Gehör gebracht wurden und er hatte Erfolg damit. Unter den Konzertbesuchern befanden sich viele Künstler, die zur Avantgarde von Moskau gehörten. Die Moskauer Elite entdeckte, dass die Bauerngesänge die Mühe wert waren, einen Abend danach zu lauschen. Es war auch jene Zeit, in der der russische Philosoph Nikolaj Berdjajev von sich reden machte und die russische Intelligenz für seine Ideen offen stand. Berdjajev sprach in seinen Publikationen über die ‚Seele des heiligen Russland’. Die alten Bauerngesänge, mit denen Pjatnitski die Zuhörer konfrontierte, schlossen in gewissem Sinne gut an die Ideen von Berdjajev an.
In den ersten Jahren der Sowjet-Union zeigte auch Lenin großes Interesse für den Chor von Pjatnitski, aber wohl aus völlig anderen Motiven. In den dreißiger Jahren wurde der Chor ein Staatsensemble. Eine von Tatjana Ustinova gebildete Tanzgruppe und ein von Wladimir Chwatov zusammengestelltes Orchester wurden dem Chor angeschlossen. Die alten Lieder, aus denen das Repertoire des Chores anfänglich bestand, mussten weichen für flotte komponierte Lieder im Volksstil. Totalitäre Machthaber haben nun einmal wenig Interesse für regionale Folklore, weil das die Nation nicht verbindet. Nationale Folklore in einem so enorm großen Gebiet wie der Russischen Förderation existierte nicht und musste deshalb kreiert werden. Das Repertoire vom Pjatnitski Volkschor umfasste seit jenen Jahren zwar noch traditionelle Lieder, aber so bearbeitet, dass sie ihren ursprünglichen Charakter doch zum Teil verloren. Einige der komponierten Lieder, besonders jene, die von Zacharov und Isakovski geschrieben wurden, wurden in der Sowjet-Union wahre Hits. Die Musikinstrumente, die der Chor vor den dreißiger Jahren benutzte, waren die alten traditionellen Instrumente wozu selbst die Drehleier gehörte. Aber Chwatov nahm als Basis für das Orchester die Instrumente, wie sie bei Andrejev gangbar waren. Chwatov komponierte und bearbeitete allerdings mehr in einem volkstümlicheren Stil, als es beim Ossipov- und Andrejev Orchester üblich war.
Video-Bsp.1: die Wladimir Hornspieler https://www.youtube.com/watch?v=7soFV7vYYnc
Video-Bsp.2: Das Ossipov Orchester spielt Swetit mesjats (der Mond scheint), ein traditionelles Tanzlied in der Bearbeitung von Wassili Andrejev. Tschaikovsky Konzertsaal in Moskau
https://www.youtube.com/watch?v=Ih_68hhfwYU
Video-Bsp.3: “Timonja”, ein Tanz aus dem Kurskgebiet, Chor.Tatjana Ustinowa. Pjatnitski Volkschor 1976 in New York https://www.youtube.com/watch?v=9oDcaVkD7Po
Video-Bsp.4: “Kak u babuschki” (bei Großmutter) Orchester vom Pjatnitski Volkschor
https://www.youtube.com/watch?v=GbWMS2KGbhE
Hennie Konings (2008), Auszug aus dem Begleitheft zur CD "Vom Dorfplatz zum Konzertsaal"
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