Weisheit, Anmut und Kraft in den armenischen Volkstänzen entdecken
Neue Ausdrucksformen - alte Glaubensinhalte
"In allem Leben gibt es Tanz“, schreibt Komitas (1869-1935), der berühmte Priester, Musikologe und Gründer der staatlichen Musikhochschule in Armenien. In der Tat hat der Tanz schon immer zum Menschen gehört, als bedeutsames Ritual, feierlicher und gemeinschaftlicher Übermittler gesellschaftlicher Sinngebung und kulturelle Ausdrucksform. Komitas erklärt, dass „die Seele nationaler Musik aus der Gesamtheit der Formen besteht, die eine Nation instinktiv einsetzt beim Singen“ und Tanzen. Es sind das Lied und der Tanz, die „unmittelbar und nicht künstlich“ „wesensgetreu das Innen- und Außenleben des Volkes widerspiegeln".
Zusätzlich zu ihren rituellen, volkstümlichen und künstlerischen Dimensionen, übermitteln armenische Tänze menschliche Werte und Glaubensinhalte. In der Vergangenheit spiegelten sie den soziokulturellen Kontext der bäuerlichen Gesellschaft wider und stärkten deren Bindung an den Alltag, die Rituale und die Traditionen. Singen und Tanzen, so Komitas, „ist bäuerlicher Alltag“ genauso wie „Brot und Wasser.“ Daher übertragen armenische Volkstänze, wie die anderer Kulturen auch, ein großartiges Sinnsystem, das unser heutiges Leben bereichert.
Armenische Tänze "Kreis des Lebens"
Es ist mein Ziel, diesen Bereicherungsaspekt der armenischen Volkstänze durch Workshops und Aufführungen hervor zu heben. Das Tanzen armenischer Tänze ist ein gemeinschaftliches Erlebnis, denn dieses Ritual bringt Menschen aus allen Gesellschaftsschichten in einem „Kreis des Lebens“ zusammen. Es verbindet die Menschen, die diese Erde bewohnen, und bringt sie mit ihren tiefen Wurzeln aus der Urzeit wieder in Einklang.
Unser Leben ist ein Gebet, das durch Tanz Ausdruck findet. Da braucht man nicht Armenier – oder irgend eine andere Nationalität – zu sein, um das zu verstehen, nur Mensch. Dieses Wissen ist äußerst wichtig für mein ei-genes Selbstbild und meine eigene Identität, nicht nur als Armenierin sondern als Mensch. Die Tatsache, dass diese armenischen Tänze als Vermächtnis weiter gegeben worden sind, schließt mich an eine zeitlose Daseinskette an. Das Begreifen dieser Weisheit und das Weitergeben dieses kostbaren Schatzes bereichert mein Leben und gibt mir das Gefühl, noch stärker verbunden zu sein mit dem, was ich als das Wesentliche im Leben und des Menschseins betrachte.
Sich mit dem Tanz auf unsere gemeinsamen Wurzeln besinnen
Wir müssen alle den „Tanz“ in unserem Leben finden. Das ist das Hauptanliegen meiner Tanz-Einkehrtage und -Workshops. Ich fühle mich berufen, Gelegenheiten zu schaffen, die diese Sinngebung am Leben halten und mir ermöglichen, sie mit einem weiten Kreis von Menschen zu teilen. Gerade während unsere Gesellschaft immer selbstbezogener, individualistischer und gleichgültiger wird, ist es umso wichtiger, uns auf unsere tiefen gemeinsamen Wurzeln zu besinnen, die uns mit menschlicher Weisheit und spiritueller Kraft versorgen. Mit dieser Wahrnehmung und Erfahrung stehe ich nicht allein. Diese Bräuche existieren tatsächlich seit Jahrtausenden, wie z.B. die Verwendung des Chrisam Öls (Myron) seit 1700 Jahren in der armenischen Kirche für die Salbung der Säuglinge bei der Taufe. Ebenso, so stelle ich mir vor, beinhalten die Tänze, die wir heutzutage tanzen, Nanopartikel, die uns mit der Weisheit unseres Erbes verknüpfen.
Reiche Vielfalt armenischer Volkstänze
Es gibt mehr als ein Dutzend Arten von armenischen Volkstänzen, darunter Hochzeitstänze, Kampftänze, Trauertänze, Erntetänze, Arbeitstänze (wie z.B. Tänze zum Joghurtherstellen, Teppichweben, Brotbacken) usw. Tanzschritte, Formationen und Bewegungen übermitteln ein breites Spektrum von Bedeutungen, wie z.B. Kocharis (mystische Ziege/Bock), Goranis (getanzt zu Liedern über Liebesleid und den Verlust der historischen Heimat Moush/Taron), Lorkes, die Nachahmung der Wachtel (wovon Kurden und Türken auch Variationen tanzen), Govnds, Papouris (auch in Variationen von den Kurden getanzt) usw.
Wie and wann werden armenische Tänze heutzutage getanzt?
Früher wurden diese Tänze von der bäuerlichen Gesellschaft zu den passenden Zeiten und in den vorgegebenen Räumlichkeiten getanzt. Die Themen waren relevant, bezogen auf die tägliche Arbeit auf dem Feld oder im Haus, oder in Zusammenhang mit besonderen Anlässen des Familien- oder Gemeindelebens. Heutzutage jedoch werden diese Tänze in anderen Rahmen und zu anderen Gelegenheiten, als in der Vergangenheit, getanzt. Meistens werden sie zu aufgezeichneter Musik getanzt – spontan, zu gesellschaftlichen Anlässen oder während organisierter öffentlicher Festlichkeiten. Diese Situationen werden von einem „Tanzleiter“ initiiert – manchmal von Livemusik begleitet – wobei alle dann mitmachen. Solche Rituale bieten eine günstige Gelegenheit für alle Anwesenden, die den Tanz kennen, und auch für andere, die ihn „direkt“ erlernen können. Die Kraft dieser Tänze reicht weiter als solche Feierlichkeiten und Veranstaltungen. Das Tanzen bei großen öffentlichen Demos oder politischen Protestveranstaltungen ist zu einer „neuen“ Ausdrucksform für Kollektivmacht und Widerstand geworden.
Durch Komitas inspiriert
Meine eigene Verbindung zu diesem Vermächtnis von Kraft in der Einigkeit und im Miteinander wird noch durch ein Gefühl von Verbundenheit mit einer größeren spirituellen Macht verstärkt, die so eindringlich durch die Natur verkörpert wird. Die tiefsinnigen Gedanken von Komitas sind mir wahrhaftig eine große Inspiration. „Besuche die Schule der Natur: öffne deinen Geist und lese ihre Seele, so gewaltig wie das Meer. Das Talent, das der Schöpfer in dir angelegt hat, ist nur ein Tropfen. Öffne dein Herz und lass die geheimnisvollen heimlichen Stimmen dort nachklingen, denn in dem endlosen Tal der Natur ist auch dein Herz eine kleine Höhle, dir vom Himmel geschenkt, damit du erhabene Gefühle darin aufbewahrst ... Die Erscheinungen der Natur sind immer in Bewegung: Leben kann man nicht in leblosen Buchstaben und Lauten, Schreibstiften und Hacken, Pinseln und Linealen umfassen. Es ist wie die Morgenröte, immer frisch, immer neu, immer lebenspendend, immer Mutter des schöpferischen Geistes und Herzens und immer einfach.“
Shakeh Major Tchilingirian, https://www.oxbridgepartners.com/shakeh/
Übersetzung: Nellie Goldstein, Foto: Hratch Tchilingirian
Dieser Artikel ist erstmals erschienen in "Balance" Zeitschrift des Fachverbandes Meditation des Tanzes – Sacred Dance e.V., Ausgabe 2/2017
Hinweise:
- Film 'Armenian Folkdance: A Celebration of Life'
Shakeh Major Tchilingirian gibt eine kurze Einführung in armenische Volkstänze und erklärt die Klassifizierungen dieses Kulturbereichs und wie er sich im Laufe der Zeit in verschiedenen Gemeinschaften entwickelt hat. Link zum Film
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