Armenien ist ein verhältnismäßig unbekanntes, gebirgiges Land zwischen
Asien und Europa. Es hat etwa die Größe Belgiens und eine
Bevölkerung, die Genozide überlebt hat.

Die Legende sagt über Armenien: Als Gott die Welt
erschuf, feierten die Armenier ein üppiges Fest (ghorowats) statt nach einem geeigneten Stück
Land Ausschau zu halten. Der einzige Fleck, der für sie übrig blieb, war ein
Land voller Steine.

Der Beginn meiner Beziehung mit Armenien ist schon eine
Weile her. Seit 1975 unterrichte ich internationale Volkstänze. Ebenso habe ich in den siebziger Jahren armenische
Tänze kennen gelernt. Was mich besonders begeisterte, war die schöne Musik und die
Wahrnehmung, dass hier beim Tanzen mehr Armbewegungen eingebaut werden als in
anderen Volkstänzen. Anfang der 1980er Jahre wurde mein Interesse stärker, mehr
über Tänze in Armenien zu erfahren.

Was wusste ich damals eigentlich über das Land?
Eigentlich ganz wenig und  so beschloss
ich, zuerst einmal einen armenischen Verein in Den Haag (Niederlande) zu
besuchen und in Kursen mehr über die armenische Geschichte und Sprache zu
lernen.  Schnell wurde bekannt, dass ich
armenische Tänze kannte und so habe ich in
der armenischen Gemeinde die Tänze unterrichtet, die ich damals kannte.

1985, Armenien war Teil des Sowjetunion, bekam ich ein
Stipendium und konnte meinen Wunsch erfüllen, als Studentin Armenien zu besuchen. Im armenischen Verein hatte ich einen Armenier kennen gelernt, der
auf der russischen Botschaft arbeitete und mir versprochen hatte, mich bei
meinem Armenien-Aufenthalt zu unterstützen. Seine Worte wurden wahr, als ich
aus dem Flugzeug in Yerevan, der Hauptstadt Armeniens, ausstieg. Am Ende der
Flugzeugtreppe stand ein großes russisches Auto und ein Mann stellte sich als
Präsident des Komitees für ausländische Beziehungen vor und er hatte einen
Übersetzer an seiner Seite, der Deutsch sprach. Ich wurde ins Hotel gebracht
und wir verabredeten uns für den den nächsten Tag. Der Präsident war schon über
mein Ziel informiert. Ich möchte gerne armenische Tänze lernen, aber meinte
ich damit jeden Tag? Ja, das war genau was ich meinte. Ich hatte ein Visum für
3.5 Wochen bekommen und es war wichtig für mich, meine Zeit gut zu nutzen.

Ich ging also jeden Tag in der Schule, in diesem Fall in die
Choreografenschule, die Tanzabteilung des Konservatoriums und trainierte armenische Tänze und Choreografien gemeinsam mit 12-18jährigen Schülern. Treffend
war eine Frage eines 12-jährigen Mädchens: „Wie alt bis du eigentlich?“ Nach
meiner Antwort sagte sie: „Genau so alt wie meine Mutter!“ Ein starker Kontrast
zu  ‚Vertraue deinen Möglichkeiten’.;-)

Am Abend trainierte ich mit verschiedenen
Amateurgruppen,  wir würden Vorführungsgruppen
sagen. Es gibt in Armenien zwei Arten von Gruppen, die einen  tanzen nach Choreografien, die anderen nicht.
Bei diesen traditionellen Gruppen folgen
die verschiedenen Tänze schneller aufeinander. Als Holländerin kann man ohne Berührungsängste mit beiden
arbeiten, als Armenierin hätte ich wählen müssen. Die beiden unterschiedlichen
Gruppen verstehen sich untereinander nicht besonders gut.

Es waren interessante Wochen, ich habe viel gelernt und
natürlich auch Musikaufnahmen gemacht, weil alles mit Livemusik begleitet wurde.
Schallplatten mit Volksmusik gab es nicht.

Natürlich kann man nicht sagen, dass man nach einem
Besuch in Armenien schon Spezialistin ist. Das hat noch ein bisschen gedauert.

Nach einem halbes Jahr ging ich zurück nach Armenien,
traf meine alten Kontakte wieder und baute sie aus. Das wiederholte sich mehrmals, das Visum
schien mir immer zu kurz. 1998 konnte schließlich fast 5 Monate in Armenien
wohnen und studieren. Ich besuchte nicht nur die Choreografenschule, die
Ausbildung für professionelle Tänzer, sondern auch die Dozentenausbildung am Pädagogischen
Institut.

Einer meiner Freunde machte Videoaufnahmen auf
Hochzeiten, ich fuhr mit und konnte sehen,  wie der Tanz den Armeniern im Blut liegt.
Sobald Musik gespielt wird, vom Synthesizer bis Zurna,  lieben
es alle Generationen zu tanzen. Ich beobachtete ein 2-jähriges Mädchen mit Schnuller im Mund, die
schon sehr müde war,  aber es machte noch elegante Handbewegungen. 

Nach fast 5 Monaten in Armenien fuhr  ich wieder heim mit vielen Erinnerungen, nicht
nur positiven. Das Leben damals war leider nicht immer nur positiv. In dieser
Zeit fingen die Armenier an, gegen das Regime zu protestieren. Armenier in
Azerbajdan wurden in Pogromen verfolgt, verletzt und getötet. Die russische
Armee war überall in der Hauptstadt,  die Proteste am Opernplatz wurden noch
toleriert, aber wie lange noch, war offen. Die Spannung nahm jeden Tag zu. Es
wurde eine Ausgangssperre von 20.00 Uhr bis morgens 7.00 verhängt. Das Leben
war nicht einfach. Butter, Zucker und Kaffee  waren rationiert.  Vor den Geschäften bildeten sich lange Schlangen.
Kaffee bedeutete: nicht gebrannte Kaffeebohnen, deshalb brannte ich das erste
Mal in meinem Leben im Studentenheim meine Bohnen. Resultat:  scheußlicher Rauch und Geruch aber ich konnte
jetzt Kaffee machen. Ich war die einzige
im Studentenheim, die ein Einzelzimmer hatte, alle anderen waren zu zweit im
Zimmer.

Zu dieser Zeit war ich sehr exotisch. Es gab keine anderen
Ausländer, die in Armenien studierten. Andere ausländische Studenten waren
alles Armenier, die aus dem Libanon kamen,
wo es damals unmöglich war wegen des Krieges zu studieren oder aus Syrien oder
Zypern.

Meine Ausnahmeposition kam im Folgenden zum Ausdruck.
Eines Tages wurde ich in das Büro des Erziehungsministers gebeten. Ich hatte
sofort ein schlechtes Gewissen. Schon einige Male war es vorgekommen, dass ich ohne Erlaubnis
Yerevan verlassen hatte. Freunde hatten manchmal spontan die Idee,
fortzufahren; ich hätte davon im Vorhinein den Dekan des Pädagogischen Institutes
informieren müssen. Die Einladung zum Besuch am Ministerium erschien mir deshalb
nicht so positiv. Der Minister war ein
junger Mann, der Englisch sprach. Er
fing an sich zu erkundigen ob mein Zimmer in Ordnung wäre. Ich habe ihm nicht gesagt,
dass die Fenster nicht gut zu gingen und Zeitungen die Löcher füllten. Das war
normal. Mein Badezimmer teilte ich mit dem Zimmer nebenan. Wasser gab es keines zwischen
10.00 und 16.00 Uhr. Das war aber auch normal. Heißes Wasser gab es überhaupt
nicht. Die Dusche hatte mehr dekorativen Charakter. Also ich antwortete,  dass alles in Ordnung war und wartete bis
diese neutrale Einleitung vorbei war und der wirkliche Grund meines Besuches
deutlich wurde. Es wurde schnell deutlich: „Wenn etwas nicht klappt oder nicht
in Ordnung war, dann musste ich ihm das sofort melden. Er würde persönlich
dafür sorgen, dass alles in Ordnung kam. Es wäre eine große Ehre, dass sich eine Nicht-Armenierin so viel Mühe gab, in
Armenien zu studieren und die Tänze weiter vermittelte.“ Ende des Besuches am Ministerium.

Es wurde Dezember 1988 und leider einer der schlimmsten
Zeiten in der Geschichte Armeniens. Ein starkes Erdbeben traf den Norden, Zentrum
des Bebens lag etwa 125 km
von Yerevan entfernt. 25.000 Leute kamen ums Leben, viele hatten alles verloren. Es war eine ganz
schlimme Zeit.

Ich habe im Krankenhaus geholfen Patienten mit Essen zu versorgen, unterstützte
das Roten Kreuz im Norden durch Übersetzungen und dabei, zu beurteilen, ob
Hilfsgüter angekommen waren. Ich war total schockiert,  die Auswirkungen dieser Katastrophe mitanzusehen,
nichts funktionierte normal. Alle Institute wurden geschlossen. Das Land
trauerte um seine Toten und viele hatten Verwandten verloren. Armenien hatte
nur etwa 3 Millionen Einwohner.

Anfang Januar war alles noch immer geschlossen, aber ich gab zwei Tanzstudenten, Armeniern aus dem Libanon,
Privatunterricht, täglich 3-4 Stunden gemeinsam mit einem Dozenten des Pädagogischen
Institutes. Wir übten gemeinsam die Tänze und machten Notizen. Es war, mitten in der Zeit nach dem Erdbeben, eine produktive Zeit und ich fühlte mich
inzwischen auch als Spezialistin für armenische Tänze. In dieser emotionellen Zeiten fand ich
Freunde fürs Leben.

Viele Jahren und Besuche später unterrichte ich immer
noch armenische Tänze und habe inzwischen nicht nur in 14 europäischen Ländern,
sondern auch in Japan, Taiwan, Hongkong, Australia, den USA und Kanada die Tänze
weiter vermittelt.

Armenien gehört nicht mehr zur Sowjetunion und ich
produziere CDs mit armenischer Musik, die mit Musikern aus Armenien in den
Niederlanden im Studio aufgenommen werden und veranstalte schon einige Jahre
Tanzreisen nach Armenien.

Die Armenische Regierung hat mich geehrt, für meine immer fortdauernde Bemühung
Armenischen Tanz und Kultur weiter zu vermitteln. Armenischen Freunde
nennen mich ‚tanzende Botschafterin’. Ich fühle mich wohl mit diesem Titel.

 Die Armenier sind ein Volk, das es  Wert ist,  kennen zu lernen. 2010 veranstaltete ich zum
ersten Mal nicht nur eine Tanzreise, sondern auch diverse Kulturreisen.  Armenien ist das erste christliches Land der
Welt, die Leute sind an viele Touristen gewöhnt. Die sogenannte Diaspora Armeniens:
Armenier, die nach dem Genozid 1915 ins Ausland geflohen sind, besuchen jetzt
ihr Mutterland und Ausländer entdecken dieses unbekannte Land. Das Land, in dem
der Tourist noch Gast ist,  und das ich
in mein Herz geschlossen habe.