Abschiedsjahr
Im Jahr 2023 geht es für mich darum, von den letzten Gruppen Abschied zu nehmen, für die ich noch Tanzkurse unterrichtet habe. Es handelt sich um Gruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Schon vor sechzehn Jahren hatte ich den Schritt gemacht, die Interkontinentalflüge in die USA und nach Fernost nicht mehr machen zu wollen. Ich wollte keine Einladungen aus diesen fernen Ländern mehr annehmen. Seit den 1990er Jahren habe ich regelmäßig Studiengruppen in Deutschland, Österreich und England unterrichtet. Im Jahr 2018 habe ich mich von der Studiengruppe in London und auch von einigen regulären Gruppen in England, Österreich und Deutschland verabschiedet.
Bild: Mit meiner Mutter und Frans in Stockton, USA, 1996. Hier habe ich ein Russen-Kostüm mit schwarzen Stiefeln an.
Bei einigen Gruppen in der Schweiz und in Österreich wollte ich meine Tanzkurse so lange wie möglich weiterführen, weil sie einen traditionellen Charakter hatten, wie zum Beispiel der russische Tanzkurs am Pfingstwochenende in Langnau, Schweiz. Diese Pfingsttanzkurse fanden seit Ende der 1980er Jahre an verschiedenen Orten statt, bis sie wegen der Corona-Sperre abgesagt werden mussten. Ich wollte die jährlichen Kurse in Hamburg und Wartaweil, in Süddeutschland, und auch den in Zürich so lange wie möglich beibehalten.
Es ist klar, dass ich im Jahr 2023 wirklich einen Schlussstrich ziehen muss. Ich werde dieses Jahr achtundsiebzig Jahre alt, und meine aktuelle körperliche Verfassung entspricht diesem Alter. Das ist die Realität, mit der ich zurechtkommen muss. Auch wenn der Abschied schmerzt, ist es unvermeidlich, dass es eines Tages zu einem Abschied kommt. Ich erinnere mich gerne an all diese Kurse in der ganzen Welt. Diese schönen Erinnerungen kann mir niemand wegnehmen. Allen Teilnehmer:innen aus allen Ländern, die meine Kurse besucht haben, danke ich von ganzem Herzen für ihre Teilnahme. Ich danke allen Organisator.innen für die Einladungen, die ich erhalten habe.
Meine roten Tanzstiefel
Wenn ich meinen Beruf als Tanzlehrer ausübte, trug ich am liebsten meine roten Tanzstiefel. Diese Stiefel waren so gut wie zu meinem Markenzeichen geworden. Ich betrachtete sie als meine treuen 'Tanzkameraden', die mir zur Seite standen, und sie haben mich in viele Länder begleitet. Vor Jahren hatte ich mit Arthrose-Symptomen in den Knie- und Grosszehengelenken zu kämpfen. Schon seit geraumer Zeit spürte ich den Schmerz beim Tanzen, aber ich gab ihm nicht nach bis Röntgenaufnahmen von Knie und Füßen gemacht wurden. Dabei zeigte sich vor allem die Verschmälerung des Knorpels in den Zehengelenken. Der Orthopäde verordnete mir, dass ich harte Einlagen tragen sollte. Der Arzt malte mir das Bild, dass die Fixierung der Gelenke möglicherweise eine Lösung für das Schmerzproblem sein könnte. Soweit wollte ich es nicht kommen lassen. Die Probleme mit den Zehengelenken hatten Auswirkungen auf meine treuen, roten Tanzstiefel. Diese Stiefel passen entweder zu meinen Füßen oder zu den Einlagen, aber nicht zu beiden. Ich musste akzeptieren, dass ich meine roten Tanzstiefel beim Unterrichten nicht mehr tragen konnte. Arthrose bedeutete, dass meine roten Tanzstiefel in einem Schrank verschwanden und nicht mehr herausgeholt wurden. Dieses Bild zeigt mich im Lehrgang in Dresden 2008 mit den roten Tanzstiefeln noch in Aktion.
In all den Jahren, in denen ich intensiv um die Welt zu meinen Tanzkursen reiste, war es gelegentlich notwendig, meine Stiefel zum Schuster zu bringen, um sie zu reparieren. In den letzten Jahren, in denen die Stiefel noch im Dienst waren, sah man ihnen die Abnutzung deutlich an und sie gingen öfter zum Schuster. Als der Schuster mich kommen sah, reagierte er sofort mit den Worten: "Nicht schon wieder diese roten Stiefel!" Er war der Meinung, dass es sich nicht mehr lohnte, sie zu reparieren, denn für ihn bedeutete dies einen vergeblichen Versuch, diese Stiefel von den Toten auferstehen zu lassen. Was mit meinen roten Tanzstiefeln geschah, kann man mit dem Schicksal meiner Grosszehengelenke vergleichen. Intensiver Gebrauch führt zu Abnutzung und Verschleiß. Das gilt für meine Gelenke ebenso wie für meine Tanzstiefel.
Dieses Bild entstand im Jahr 2009 in Donezk.
Links: Doris Saisch in einem traditionellen russischen Sarafan. Ich habe eine Tracht der Kuban-Kosaken an und Nikolai vom Ensemble Ozorniye Naigrishi trägt eine ukrainische Tracht.
Bei einer traditionellen ukrainischen Tracht werden rote Stiefel normalerweise von Männern getragen. Soweit ich weiß, sind russische Tanzstiefel für Männer NIE rot. In Bühnenchoreographien sah ich manchmal ein Fantasiekostüm in einem russischen Tanz, bei dem die Männer weiße Tanzstiefel trugen. Russische Tanzstiefel sind in der Regel schwarz. 1998 wurde ich nach Harstad in Norwegen eingeladen, um einen Kurs in russischem Tanz zu unterrichten. Dort fand im Rahmen der Städtepartnerschaft zwischen Harstad und der Stadt Archangelsk in Nordrussland ein Festival statt. Bei diesem Festival stand neben dem Sport auch die russische Kultur im Mittelpunkt. Auch ein Amateur-Volkstanzensemble aus Archangelsk trat dort auf. Die Tänzerinnen und Tänzer dieses Ensembles sahen mich dort in meinen roten Stiefeln russische Tanzschritte unterrichten. Ich unterhielt mich mit einem der Tänzer. Ich erinnere mich gut an seine Bemerkung, dass man zu ukrainischen Tänzen rote Stiefel trägt, aber nicht zu russischen. Ich erzählte ihm, dass ich auch schwarze russische Tanzstiefel besitze, aber dass ich beim Unterrichten lieber diese roten Stiefel trage, weil sie für meine Füße am bequemsten sind. Nur wenn ich eine russische Tracht trüge, würde ich niemals rote Stiefel dazu anziehen, sondern meine schwarzen Stiefel.
Meine roten Tanzstiefel erblickten 1988 in Moskau das Licht der Welt, als ich mich dort zu einer Fortbildung aufhielt. In Moskau kannte ich einen guten Spezialisten, der maßgeschneidertes Schuhwerk für Tänzer:nnen herstellte, und die Preise waren zu dieser Zeit sehr günstig. Der Spezialist verfügte damals nicht über das entsprechende schwarze Leder. Das bedeutete, dass ich warten musste, es sei denn, ich konnte mich für rotes Leder entscheiden. Er hatte rotes Leder von guter Qualität auf Lager und konnte meine bestellten Stiefel innerhalb von ein oder zwei Wochen fertig stellen. Also entschied ich mich für rote Stiefel, wobei ich ursprünglich vorhatte, sie in den Niederlanden schwarz färben zu lassen. Zu dieser schwarzen Färbung kam es nie, denn im Jahr darauf schenkte mir ein Freund, der im Pjatnizkij-Volkschor tanzte und sich zur Ruhe setzte, ein Paar schwarze Stiefel. Ich trug diese Stiefel bei meinen Auftritten in der ganzen Welt, als ich in Kosakenkostümen auftrat.
In den letzten Jahren habe ich zweimal meine roten Stiefel zu besonderen Anlässen herausgeholt und an den Füßen gehabt. Die erste Situation war 2016 bei der Hochzeit von Tanzfreunden, die sich in meinen Tanzkursen kennengelernt hatten und für die ich Trauzeuge bei ihrer Hochzeit sein durfte. Das zweite Mal war Weihnachten 2022, das ich mit ukrainischen gehörlosen Flüchtlingen feierte. Es schien eine gute Idee zu sein, zu diesem Anlass ukrainische Tanzstiefel zu tragen. Ich hatte das Gefühl, dass ich damit betonen wollte, dass für mich diese ukrainischen Tanzstiefel und das russische Tanzen immer gut miteinander harmonieren können.
So wie auf diesem Bild links habe ich meine roten Tanzstiefel einmal bei einem Samowar-Picknick im Jahr 2021 benutzt. Von meiner Tante Nadja hatte ich vor langer Zeit gelernt, dass man dem mit Holzkohle geheizten Samowar mit einem Stiefel als Blasebalg zusätzlichen Sauerstoff zuführen kann.
Leider hat der von Putin gewollte Krieg schreckliche Folgen für die Menschen in der Ukraine und auch in Russland. Dieser Krieg wirkt sich auch auf die Kultur aus. Wenn man von russischen Tänzen spricht, denkt man sofort an diesen Krieg. Ich sehe auf You Tube, dass ukrainische Tänze jetzt überall viel Aufmerksamkeit bekommen. Das Interesse an russischen Tänzen ist heute gering. Ich denke, dass der Freizeitvolkstanzmarkt in der Welt sehr offen für Tanzlehrer sein wird, die ukrainische Tänze anbieten. Russische Tänze sind nicht mehr in.
Das Moskauer Moiseyev-Ballett wird mit Sicherheit bis auf weiteres keine ukrainischen Choreografien mehr aus dem Repertoire aufführen. Auch das ukrainische Virski-Ensemble aus Kiew wird zu diesem Zeitpunkt die russischen Tänze aus dem Repertoire genommen haben. Leider haben die politischen Leiter geopolitische Interessen, und diese bedeuten, dass die künstlerischen Leiter der staatlichen Ensembles entsprechend handeln müssen. Denn zu lernen, die andere Seite zu hassen, ist heute traurige Aktualität.
Bei meinen Abschiedskursen, die dieses Jahr stattfinden, werde ich ausnahmsweise mit meinen roten Tanzstiefeln an den Füßen auftauchen. Dann werden diese roten Stiefel zum letzten Mal mit mir in meinem Gepäck mitreisen. Die Teilnehmer dieser Abschiedskurse können mich dann zum letzten Mal in meinen roten Tanzstiefeln erleben. Vielleicht werde ich in ihnen vorsichtig einen russischen Tanz mittanzen. Und ich hoffe, dass ich mit diesem einen russischen Tanz in den ukrainischen Tanzschuhen an den Füßen, symbolisch eine Verbindung schaffe: als Statement gegen diesen sinnlosen Krieg und als Ausdruck meines Wunsches nach Frieden zwischen den beiden Ländern, die ich so sehr liebe.
Hennie Konings im Jänner 2023
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