Essayistische Betrachtungen aus Sicht der Psychosynthese
In Zusammenarbeit mit ihrem Vater, dem Ballettmeister und Choreographen Bernhard Wosien (1908-1986), entwickelte Dr.Maria-Gabriele Wosien den Sakralen Tanz (Sacred Dance). Aus ihrem Studium westlicher und östlicher sakraler Traditionen gestaltete sie in zahlreichen Choreographien eigene Themenschwerpunkte. Ihre Arbeit ist dabei auf das bewusste Erleben mythischer Bilder und Symbole ausgerichtet, die so ihre Heilkraft entfalten können. Der Tanz als integrierendes menschliches Miteinander hat sich inzwischen durch viele internationale Begegnungen, Seminare und Festivals über die Welt verbreitet. Ihre neueste DVD-Veröffentlichung ist die „ARIADNE“.
Durch meine eigene Ausbildung in Sakralem Tanz sowie in therapeutischer Psychosynthese und einem persönlichen großen Interesse an Mythologie hat mich dieses Thema sofort in Bann gezogen.
Der Impuls für die DVD entstand durch einen Traum, den die Leiterin eines Tanzstudios auf der Halbinsel Krim hatte: der Mythos der Ariadne verband sich darin mit einem Erlebnis in der heutigen Zeit. Und den Abschluss des Projektes bildet ebenfalls ein Traum: die Vision der Corona, die dem amerikanischen Psychosynthese-Therapeuten Tom Yeomans erschien und zur Entwicklung des Corona-Prozesses führte. Diese „Corona“ wurde für mich das Bindeglied zwischen Psychosynthese und Tanz, zwischen Mythologie und Gegenwart und hat mich zu diesen Betrachtungen inspiriert.
Sechs Filmszenen schildern den Weg und die Entwicklung der Ariadne. Der Name bedeutet die „Reinste“, „Klarste“ oder „Heiligste“.
Die ersten beiden stellen die alte und die neue Zeit nebeneinander. Szene Eins ist überschrieben mit „Ananke“ als unerbittliche Verkörperung des Schicksals in der griechischen Mythologie. Ihre drei Töchter sind die Schicksalsgöttinnen „Klotho“, die den Lebensfaden spinnt, „Lachesis“, die seine Länge, d.h. Zeitdauer festlegt und „Atropos“, die ihn schließlich abschneidet. Sie repräsentieren sozusagen Geburt , Leben und Tod. Zum Schluss erscheint „Eros“, die Erfüllung in der Liebe, die Verbundenheit mit dem All-Eins-Sein, die uns hilft, die Lebensdramen im Angesicht der Unveränderlichkeit des Schicksals zu bestehen. Erstere sind sozusagen Symbole unseres persönlichen Selbst, mit dem wir unser Leben nach bestehenden bewussten und unbewussten Gesetzen gestalten, letzterer Ausdruck unseres Höheren Selbst, aus dem wir immer wieder neu schöpfen und heilenden Abstand gewinnen können.
In der zweiten Szene, betitelt „Unterführung“, wird der Traum der Tanzstudioleiterin nacherzählt. Er hat den Charakter einer Einweihung, indem er im alltäglichen Leben einer Stadt beginnt und sie hinabführt in eine Unterführung, durch das Dunkle ihres Unbewussten. Dort begegnet sie der Gestalt eines alten Mannes mit einer Waage und einer Silberkugel, den sie als Ausdruck ihres Seelenlebens erkennt. Beim Weitergehen verwandelt sich hinter ihr, ohne ihr Wissen, der alte Mann in die Maske des Minotaurus und anschließend in die des Dionysos. Ihr Weg endet, indem sie eine Treppe wieder heraufsteigt in eine neue, weiße, unbelebte Stadt, über der in indigofarbenen Buchstaben der Name Ariadne geschrieben ist. Er erscheint wie eine Zukunftsvision.
Von diesen zwei Ausgangspunkten wird dann der Entwicklungsweg der Ariadne beschrieben und ist dadurch immer im doppelten Sinne zu verstehen: als allgemeiner Mythos und persönlicher, individueller Weg.
Beginnend mit der dritten Szene erscheint Ariadne als Priesterin eines Totenkultes im Labyrinth von Kreta. Durch die Macht der Liebe zu Theseus erlangt sie die Freiheit, sich von ihrer Schattenexistenz und ihrem Gefangensein in der Struktur des Labyrinths in einem spiralförmigen Tanz zu lösen. Ihre Kleidung wandelt sich allmählich von schwarz zu weiß. Theseus als ein Vertreter des Sonnengottes bezwingt Minotaurus, das Symbolbild des Mondes. Aus der Opposition von Sonne und Mond wird die Konjunktion der beiden Kräfte. Das Licht überstrahlt die Dunkelheit, das Neue das Alte, „der Mut, dem Tod zu begegnen, führt zur Freiheit“. Die im Dunkeln festgehaltenen Schatten-Seelenanteile werden erlöst.
In der vierten Szene flieht er mit Ariadne nach Naxos, der Insel des Dionysos, zu „einem Leben ohne Begrenzungen“. Theseus wird dort durch Hermes, dem Götterboten in einem Traum mitgeteilt, dass er Ariadne verlassen muss. Sie ist Dionysos, dem Herrn ihres Lebens bestimmt . „Du musst leben, lieben, tanzen“ ist dessen Auftrag an sie. Um zu ihrer göttlichen Bestimmung zu gelangen, setzt Ariadne sich mit den Mischwesen aus dem Gefolge des Dionysos (Satyre und Mänaden) auseinander und befreit sich schließlich durch ihre Liebe und Hingabe von ihnen - um den Preis ihres physischen Todes.
Dionysos verleiht ihr in der fünften Szene am Himmel die Krone des Lebens – die Corona borealis – und macht sie dadurch unsterblich. Diesen Übergang der Ariadne in das Reich des Lichtes begleitet der Traumtext von Yeomans.
In der letzten sechsten Szene wird der Bogen vom Himmel wieder auf die Erde geführt durch einen griechisch-traditionellen Labyrinth-Tanz. In den Kreis der Tänzer - geführt von Ariadne mit einem Blütenkranz in der Hand , gefolgt von Theseus, in der Mitte die Maske des Minotaurus - senkt sich der Lichtkranz. Die Minotaurusmaske dagegen wird aus ihrer Halterung gelöst und erscheint als Sternbild des Stieres am Himmel.
Gleichzeitig erscheint die Siegesgöttin Nike und beendet alle Gegensätze und Konflikte des Ariadne-Zyklus. Ihr kreisförmiger Lorbeerkranz symbolisiert das Ideal der Vollendung.
Zentrales Thema der Ariadne ist also ihre Wandlung von einem zeit- und schicksalsgebundenen, menschlichen Wesen in eine freie, zeitlose, kosmische Daseinsform. Ermöglicht wird diese Wandlung durch die Begegnungen mit unterschiedlichen Figuren (Minotaurus, Theseus, Dionysos), die in Ariadne entsprechende Entwicklungsschritte anstoßen, mit denen sie sich zunehmend souveräner auseinandersetzt.
Dadurch ist sie für mich ein wunderbares Bild für die eigenen Lebens-Reifungsprozesse, die wir durchlaufen und bei denen wir auf Widerstände und Herausforderungen, Krisen und Entscheidungen, Mut und Loslassen/Verlassenwerden angewiesen sind.
Ausgesprochen spannend finde ich die dramaturgische Idee Gabriele Wosiens, die Geschichte von Ariadne nicht enden zu lassen mit ihrer „Himmelskrönung“, sondern den Prozess wieder auf die Erde zurückzuführen. Das Labyrinth-Thema taucht im „Tsakonikos“-Tanz wieder auf, aber eben in verwandelter Form. Es ist nicht mehr festhaltende, einengende Struktur wie am Anfang das steinerne Labyrinth, sondern lebendige, dynamische Bewegung, in der nun Ariadne die Führung übernimmt und Theseus ihr folgt. Ebenfalls umgekehrt wie zu Beginn, wo Theseus die aktive Rolle innehat und für den entscheidenden Entwicklungsschritt sorgt. Auch Minotaurus erfährt eine erlösende Wandlung, indem er aus den tiefsten Tiefen der Erde als Sternbild des Stieres an den Himmel versetzt wird. Dazu stellt Wosien ein Zitat von Tom Yeomans : „Das Erstaunliche an der menschlichen Reife ist dies, dass wenn wir mit dem Leben als Ganzes eins werden, wir gleichzeitig auch ganz uns selbst werden“.
In dem persönlichen Traum der Tanzstudioleiterin bleibt diese Dynamik wie verborgen. Aus dem Alltag kommend entdeckt sie die Möglichkeiten des „Höheren Selbst“ noch ganz visionär in Gestalt der weißen unbelebten Stadt und des indigofarbenen Schriftzuges (Indigo ist übrigens eine Farbe des Regenbogens!). Die lebendige Verbindung zwischen persönlicher und transpersonaler Ebene bleibt ihr noch unbewusst: die Minotaurus/Dionysosmaske entsteht in der Unterführung HINTER ihr.
Die mythologische Geschichte der Ariadne füllt sozusagen diese Lücke und ist damit erstaunlich zeitgemäß!
Über die „Corona“ wird dann ebenfalls eine Brücke geschlagen: von der individuellen zur kollektiven Ebene, vom alten – und doch so aktuellen - Mythos zur Gegenwart.
Der Traum von Yeomans sei zur besseren Verständlichkeit kurz wiedergegeben: „Wie ich so stand und schaute, fiel mir eine sehr helle Konstellation auf – die Corona – sie bildete einen Sternenkreis am Himmel, heller als die Konstellation, die wir sonst sehen. Und wie ich so schaute, fingen die Sterne an, ein strahlendes Licht auszusenden . - in alle Richtungen -, der Kreis behielt aber seine Form. Dann, aus der Tiefe des Raumes, erschien ein Lichtstrahl wie ein kosmischer Blitz und erleuchtete sekundenlang den ganzen Himmel.. Dieses Licht hatte eine ganz andere Qualität als das Sternenlicht..und es ergoss sich sowohl durch als auch um die Corona der Sterne...es war in Strahlen aufgereiht, ein Strahl traf die Iris meines linken Auges und brannte eine Pyramide hinein“.
Daraus entwickelte Yeomans seinen Corona-Prozess als Modell für eine Gruppenarbeit im spirituellen Kontext. Wie der einzelne Mensch ist demnach auch die Gruppe ausgestattet mit einer Persönlichkeit, einer Psyche und einem Selbst. Die Persönlichkeit der Gruppe (i.e. die Sterne der Corona) bildet das System von Identifikationen und Beziehungen der einzelnen Gruppenmitglieder untereinander. Dieses System kann harmonisch sein oder konfliktbeladen, je nach Ausprägung der vielen inter- und intrapsychischen Faktoren. Diese Dimension ist uns am vertrautesten. Die Psyche der Gruppe (i.e. die Sternstrahlen) ist das „kollektive Unbewusste“ der Mitglieder sowie das psychische Wechselspiel zwischen ihnen und kann über Rituale z.B. erreicht werden. Die dritte Dimension, das Gruppenselbst, (i.e. kosmischer Blitz) definiert Yeomans als das organisierende Prinzip im Leben der Gruppe. Es fasst wie ein Gefäß das Potential, den Sinn, die Bestimmung, das wahre Ziel und die Intention der Gruppe, auch in Bezug zu anderen Gruppen oder zum Planeten insgesamt. Wie der individuelle Mensch antwortet die Gruppe nicht immer auf dieses Lebensprinzip und ist manchmal davon abgeschnitten. Gruppenarbeit im spirituellen Kontext bedeutet nach Yeomans, diese Ebene anzuerkennen und mit dieser Kraft umgehen zu lernen, der Gruppe zu helfen, mit ihrer wahren Bestimmung in Kontakt zu kommen und sie auszudrücken. In der „Pyramide in seinem linken Auge“ erkennt er die Synthese aller drei Ebenen.
So finden wir über die „Corona“ eine Verbindung bezüglich des Themas individueller / kollektiver Entwicklung. Phänomene, die für den einzelnen gelten , können auch auf die Gemeinschaft übertragen werden. Bildhaft erscheint mir das in der abschließenden Szene der DVD, in der Nike mit dem Lorbeerkranz erscheint: die Sieges-Göttin mit einer irdischen Pflanze. (Der Lorbeer war in der griechischen Mythologie heilig, weil Apollon seine Tochter Daphne in einen Lorbeerstrauch verwandelte, um sie vor Nachstellungen zu retten). Die Weitung des Prozesses über Ariadne hinaus zu Nike entspricht dem Schritt vom ersten individuellen Traum, der zur Gründung eines Tanzstudios führt zu dem zweiten, der das Gruppenselbst etabliert.
Gabriele Wosien stellt also zwei Prinzipien nebeneinander und in Beziehung:
Ananke und Eros (individuelles Schicksal und all-einende Liebe) , Ariadne und Nike (Mensch und Göttin) als mythologische Archetypen sowie die persönlichen Träume der Tanzstudioleiterin und Yeomans, die beide jeweils das Leben der Protagonisten verwandelt haben.
Sie greift in dieser DVD die irdische und geistige Dimension des Menschseins auf und stellt für mich dadurch tiefe Bezüge zur Psychosynthese her.
Auf diese Weise wird das Thema „Entwicklungsfaden“ unter den Aspekten Liebe, Schicksal, Hingabe, Freiheit und Weisheit in großer Vielschichtigkeit ausgeleuchtet. Die DVD hat mir aufgrund der wunderbaren „Bebilderung“ durch die getanzten Szenen (denen man die schwierigen Aufnahmebedingungen auf der russisch besetzten Krim manchmal berührend ansieht) und der überaus reichen mythologischen Hintergrundinformationen, die M.G.Wosien in ihrem Begleitheft zusammengefasst hat, viele Anregungen für die eigene psychotherapeutische Arbeit gegeben und mich auch nochmals sehr mit dem Coronaprozess verbunden. Sie ist für den mythologisch und psychologisch Interessierten, auch ohne Bezug zu Sakralem Tanz, sicher sehr empfehlenswert.
Artikel erstmals erschienen in: Psychosynthese - Zeitschrift für Psychosynthese und verwandte Gebiete im deutschsprachigen Raum, Nr 38, März 2018
Link zur Publikation: Ariadne - Wandlungen im Tanz, DVD und ausführliches Textheft mit mythologischem Hintergrund
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Comments
Zitat von Tom Yeomans : „Das Erstaunliche an der menschlichen Reife ist dies, dass wenn wir mit dem Leben als Ganzes eins werden, wir gleichzeitig auch ganz uns selbst werden“.
...gar nicht erstaunlich,ist aber eine frage der erfahrung und perspektive.tatsächlich erscheint dies ein teil von ananke zu sein,der unabdingbaren notwendigkeit:nur aus der eigenen ganzheit heraus wird die ganzheit des ganzen erfahrbar ...
es kann garnicht anders sein
und so kann man den hier beschriebenen prozess auch als ganzwerdung verstehen