Durch seine Lehren und Übungen sucht der Buddhismus einen Seins-Zustand jenseits aller Dualität zu vermitteln. Die verschiedenen Schulen bieten jeweils Übungsprogramme an, um den Geist von Unwissenheit und Wunschvorstellungen zu befreien, indem sie Möglichkeiten aufzeigen, wie man sich aus einer Anhaftung an diese lösen kann.

Abb.1: Buddha-Figur im Vorgarten des Hotels «Vajra», Kathmandu

Die Welt der Erscheinungen gilt als relativ. So wie das Wasser ist sie in ständiger Bewegung. Dies bewirkt, dass man der Illusion des Getrenntseins anhaftet, wenn man im eigenen Urteil gefangen und durch eigene Wertvorstellungen befangen ist. Die Meditationsübungen, die sich über die Jahrtausende entwickelt haben, widmen sich den Möglichkeiten, die Ursachen solcher Anhaftungen zu überwinden, insbesondere durch das Beruhigen körperlicher Empfindungen, durch Befriedung des Geistes und dadurch, dass man lernt, dem Leben vorbehaltlos zu begegnen.

Die buddhistischen Lehren benützen die Metapher des «Bootes», das den Übenden, durch die Turbulenzen des Lebens hinüber zu einem sicheren Ufer steuert. Dies wird dadurch möglich, dass man die Fähigkeiten erlangt, mit dem eigenen inneren Weisheitspotential in Berührung zu kommen.

Abb.2: Dharmachakra, das Rad der Lehre – Symbol der Lehre des Buddhas des Edlen Achtfachen Pfades zur Erleuchtung. In der Meditation des Vajrayana-Buddhismus hat das Rad seinen Sitz im Herzen des Menschen, von wo aus es aktiviert wird.

Der Vajrayana-Buddhismus beinhaltet die dritte Umdrehung des Dharma- Chakra nach den historisch älteren Lehren des Hinayana- und Mahayana-Buddhismus. Er wird als die direkteste Methode angesehen, um den Übenden auf die höchste Wirklichkeit auszurichten. Teil dieser Methode sind ausgefeilte Meditationstechniken und das besondere Training sensibler Wahrnehmungsfähigkeiten. Die wesentliche Übung aber ist die Tiefenmeditation, in Anlehnung an frühere Entwicklungsstadien des Buddhismus mit seinem Ziel, die absolute Wirklichkeit dadurch zu erfahren, dass die Dimension des Egos überwunden wird.

Abb.3: Der Buddha dreht das Rad der Lehre. Muang Boran, Samut Prakan, Thailand

In Nordindien begann der Buddhismus seinen Niedergang mit der moslemischen Invasion und hatte bis zum 14. Jahrhundert dort auch die Grundlagen für seine materielle Basis verloren, wodurch das Kathmandu-Tal zum sicheren Zufluchtsort für die praktische Ausübung des auf Sanskrit basierenden Buddhismus wurde. Bis zu dieser Zeit waren seine Protagonisten Mystiker der verschiedensten Richtungen gewesen, auch Mönche und Asketen – sogenannte Siddhas, d. h. Meister, die als Wesen höchster geistiger Vollendung verehrt wurden. Sie lehrten den Pfad des Eins-Werdens mit dem reinen «diamantenen» Seins-Zustand, als der Basis für die Welt der Erscheinungen. Aus ihrer Weltsicht eines sich immer weiter ausdehnenden Universums eröffnet er die Möglichkeit einer bildlichen Wahrnehmung der transzendenten Wirklichkeit hier und jetzt. In diesem Zusammenhang werden die Erfahrungen des Übenden substanziell als von reiner Vajra-Natur betrachtet.

Die Ausübung der Vajrayana-Meditation und der tantrischen Rituale waren der gemeinsamen Obhut der Newar-Priesterkaste, den Vajracharyas, vorbehalten. Sie hatten die komplexen Traditionen im Kathmandu-Tal seit dem 6. bis 7. Jahrhundert verwaltet und an nachfolgende Generationen weitergeleitet, den Charya-Tanz mit inbegriffen. Die Newars sind die Ureinwohner des Kathmandu-Tals. Ihre Geschichte und hochentwickelte Kultur in den Bereichen von Kunst und Architektur ist etwa zweitausend Jahre alt. Sie sind sowohl Hindus als auch Buddhisten. Ihre Sprache ist tibetisch- burmesischen Ursprungs und enthält einen hohen Anteil von Sanskrit. Im späten 18. Jahrhundert verloren die Newars ihre Autonomie mit der Eroberung des Kathmandu-Tals durch Prithvi Narayan Shah, der dort seine Hauptstadt errichtete. Charakteristisch für den Newar-Buddhismus ist die komplexe Synthese mit älteren vorherrschenden Glaubensvorstellungen und Ritualen des Hinduismus. Das beinhaltet auch das Praktizieren ausgedehnter, detaillierter Rituale sowie ein reiches künstlerisches Erbe.

Der Newar-Buddhismus hat die Lehren des Mahayana-Buddhismus (der Lehre des Grossen Pfades des Mitgefühls im Handeln) mit mündlich und schriftlich überlieferten Traditionen integriert. Eine Besonderheit dieser Tradition ist es, dass die «Meister des Diamant-Weges», die Priesterkaste der Vajracharyas, als Repräsentanten für die höchsten buddhistischen Ideale, eine nicht zölibatäre Gemeinschaft bilden. Als zölibatäre Mönche heirateten und auf diese Weise zu Erbpriestern, den Vajracharyas, wurden, hat sich daraus im Newar-Buddhismus eine hierarchische Linie herausgebildet. Die Klöster, die Viharas,wurden so zu Wohnstätten von Familien.

Der hauptsächliche Anziehungsgrund des Vajrayana-Buddhismus – der Diamantweg,so wie er von der ethnischen Gruppe der Newars praktiziert wird – ist ihr Glaube, dass der Initiant durch Rituale, unterstützt von Charya-Liedern und -Tänzen, die Möglichkeit erhält, in einem einzigen Leben ein Buddha zu werden, statt dass er dafür mehrere Lebenszyklen benötigt, wie dies der Buddhismus im Allgemeinen lehrt. Auf diesem Weg kommen aber alle geistigen Errungenschaften der Menschheit insgesamt zugute.Heute noch üben die Newar-Priester Charya-Lieder und den Tanz als integralen Teil ihrer Rituale aus, wobei die Priester die Verkörperung der angerufenen Gottheit darstellen. Das gilt auch für den Tänzer innerhalb der Charya-Tradition, der für die Dauer des Tanzes selbst die «Gottheit» ist.

Das Ende des 20. Jahrhunderts war die Zeit der beginnenden Öff nung der Tradition für eine breitere Öffentlichkeit, mit Vorführungen und der Aufnahme von Studenten und Menschen aller Gesellschaftsschichten und Berufe. Seit der Besetzung Tibets durch China im Jahre 1959 hatte sich der Buddhismus in der Welt verbreitet, wodurch auch ein neues Bewusstsein für die Notwendigkeit entstand, diejenigen Traditionen allgemein zugänglich zu machen, die bis dahin geheim gehalten wurden. Die revolutionäre politische, soziale und religiöse Situation bedeutete auch für die Charya-Tanztradition eine Herausforderung, die seit ihren bekannten Anfängen im frühen Mittelalter in Nepal ausschliesslich von den Oberhäuptern der Priesterkaste der Vajracharyas ausgeübt und bewahrt wurde.

Die plötzliche geschichtliche Zeitenwende eröffnete neue Möglichkeiten, die bis dahin geheimen rituellen Traditionen öffentlich zu machen: Buddha selbst hatte keine Tabus
geschaffen, womit seiner Lehre äussere Grenzen gesetzt worden wären, hatte er doch seine Einweihung durch eigenes Üben, durch den Weg des Sadhana erhalten. Nun war die Zeit gekommen, dass das Prinzip des offenen Lernens einen neuen Fokus erhielt. Seit der sogenannten «Revival Phase» der 1990er-Jahre betrachtet man Charya als Teil des klassischen nepalesischen Tanzes, der in öffentlichen Versammlungen vor einem Publikum gezeigt wird, auch vor Ausländern, in Theatern und auf Hotelbühnen. «Wer es auch sei, der lernen möchte – alle sind willkommen!»

Zu Beginn der 1990er-Jahre trat der Priestergelehrte Pandit Ratnakaji Vajracharya in Nepal öffentlich dafür ein, dass die Charya-Tradition nicht länger ausschliesslich den Priestern vorbehalten, sondern vielmehr als freie spirituelle Praxis verfügbar sein sollte. Er schrieb Artikel, veröffentlichte eine Anzahl von Büchern und Mantras und setzte damit eine intensive Diskussion über die Verbreitung einer von der Tradition geheim gehaltenen Lehre in Gang – in den eigenen Kreisen und darüber hinaus. Grössere Anerkennung wurde dieser revolutionären Gesinnung jedoch erst nach seinem Ableben im Jahre 1999 zuteil.

Das neue Privileg der Teilhabe führte international zu der Entdeckung vieler «Schätze» dieser ehrwürdigen Tradition durch Gelehrte und interessierte Studenten. Inzwischen hat sein Sohn Prajwal die Verantwortung für das traditionelle Erbe und
dessen Verbreitung auf dem Globus übernommen. Einer Einladung folgend, errichtete er einen Tempel und gründete eine Schule für Charya in Portland, Oregon, Nordamerika, wobei er weiterhin in Nepal und anderen Ländern unterrichtet und mit
seinen Schülern Vorstellungen anbietet (www.dancemandal.com).

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags:
Auszug aus der Publikation (Buch, Film-DVD, Musik-CD): Maria-Gabriele Wosien (2014) Charya - ich bin eins, Tanz als Meditation in Bewegung, Metanoia-Verlag;

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