DAS LABYRINTH - GESCHICHTE UND BEDEUTUNG
von Kyriakos Chamalidis

Das Labyrinth steht in unmittelbarer Beziehung zum vielleicht interessantesten Heldenmythos der griechischen Mythologie, dem des Theseus. Das Wort Mythos selbst stammt vom griechischen Verb „myo“ (μύω) d.h. mit geschlossenen Augen sehen. Tatsächlich ist unsere Wahrnehmung mit geschlossenen Augen geschärft. Wir sehen und empfinden dann zuweilen besser.

Theseus wurde auf dem Festland geboren. Er ist eng verbunden mit dem Schicksal der Stadt Athen und wurde in eine Welt des Denkens und einer aufstrebenden Athener Kultur hineingeboren. Theseus war bodenständig und zielstrebig. Im Gegensatz dazu wurde Ariadne auf der Insel Kreta geboren. Hinein in eine Kultur der Künste und der Feinfühligkeit. Ariadne war die Königin des Labyrinths und kannte sehr wohl alle Wege und Gefahren. Die beiden Staaten waren verfeindet. In dieser Zeit wurde Androgeos, der Sohn des König Minos in Athen auf geheimnisvolle Art und Weise umgebracht. Woraufhin Minos nach Rache in Form eines schrecklichen Tributs verlangte. Er befahl den Athenern alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen nach Kreta zu schicken, um dem Minotaurus als Nahrung zu dienen.

Theseus’ Vater war bereits zweimal verheiratet, hatte jedoch keine Kinder. Aus diesem Grund ging er zum Orakel nach Delphi. Dort erhielt er den folgenden, geheimnisvollen Orakelspruch: „Tapferer, öffne nicht den langen Hals deines Weinschlauches, bevor Du in Athen bist.“ Unterwegs besuchte Aegeus den weisen König von Troizen und befragte ihn zu dem verwirrenden Orakelspruch. Der König verstand den Orakelspruch, gab ihm einen Liebestrank und legte ihn zu Aithra, seiner Tochter ins Bett. Aithra hingegen genoss in dieser Nacht nicht nur die menschliche Liebe, sondern auch die göttliche, und zwar mit Poseidon. Aegeus erhoffte sich nach dieser Nacht einen Sohn von Aithra. Er führte sie zu einem grossen Stein und versteckte darunter seine Sandalen und sein Schwert.

Zu Aithra sagte er, dass das Kind, sofern es ein Junge sein würde, versuchen solle, den Stein zu heben und befahl ihr, den Sohn nach Athen zu schicken. Und so geschah es. Der junge 16-Jährige Theseus hob den Stein mit Leichtigkeit an, nahm Sandalen und Schwert an sich und ging zu seinem Vater nach Athen. Unterwegs sah er sich vielen Feinden und Schwierigkeiten ausgesetzt, die er jedoch als sog. Sonnenheld überwand, d.h. mit Hilfe der Sonnenkraft, die das Licht der Erkenntnis symbolisiert. Seine Heldentaten machten Theseus beim Volk bekannt und sehr beliebt.

Medea, die Frau des Aegeus war eine Zaubererin und gebar in der Zwischenzeit ebenfalls einen Sohn, Medon. Medea wusste, dass Theseus eines Tages König der Stadt Athen sein würde. Mit der Begründung, der Held würde König Aegeus entthronen, bekam sie vom König die Erlaubnis, Theseus zu vergiften. Am Bankett nahm Theseus aus der Hand des eigenen Vaters den vergifteten Trank. Als Theseus begann das Fleisch mit seinem Schwert zu schneiden, erkannte der König seinen Sohn und schleuderte daraufhin den Becher zu Boden. Medea floh aus Athen und kehrte nie wieder zurück. Aegeus schloss seinen Sohn in die Arme und ernannte ihn zu seinem Nachfolger.

Es waren fast 18 Jahre vergangen seit dem Tod von Androgeos. Minos war erneut mit dem Schiff in Athen um seinen Tribut einzufordern. Theseus beschloss, dieses Mal mit nach Kreta zu fahren, den Minotaurus zu besiegen, die Klagen und Trauer zu beenden und so Athen zu befreien. Dies würde seine größte Heldentat werden. Zuvor hatte der Königssohn seinen Orakelspruch in Delphi erhalten: „Geh nach Kreta, und lass Dich von der Göttin der Liebe leiten!“ Bevor das Schiff mit weissen Segeln auslief, legte der König die Hände auf den Kopf seines Sohnes und bat ihn: „Wenn du heil zurückkehrst, dann versprich mir, dass man dem Schiff weiße Segel setzt, schwarze, wenn du umgekommen bist.“ Begleitet von bangem Hoffen fuhr das Schiff nach Kreta, während Aegeus jeden Tag am Kap Sounion auf die Rückkehr seines Sohnes wartete. Theseus kam nach Kreta und verliebte sich dort in die Königstochter Ariadne (= die Reine),Tochter von Pasiphae (=die Strahlende), die sich in den göttlichen Stier verliebte und später den Minotaurus (halb Mensch, halb Stier) gebar.

Minos wollte diese Sodomie nicht ertragen und ließ den Minotaurus im Palast einschließen, den Dädalus für Ariadnes Tänze erbaut hatte. Es war das berühmte Labyrinth, aus dem der Minotaurus nicht entfliehen konnte. Es war sein Zuhause und gleichzeitig sein Gefängnis. Ariadne begegnete Theseus und wusste sogleich, dass sie den Tod dieses Jünglings nicht dulden würde. Theseus versprach, sie zu heiraten und Ariadne schenkte ihm das berühmte rote Wollknäuel, den Faden der Ariadne. Mit diesem ging Theseus in das Labyrinth, tötete den Minotaurus und fand mit Hilfe des Ariadnefadens wieder heraus.

Die Athener Freunde warteten und waren überglücklich, als Theseus als Sieger herauskam. Sie fuhren alle gemeinsam mit Ariadne nach Delos und opferten dort der Göttin Aphrodite. Leider war Ariadne jedoch dem Gott Dionysos versprochen und so musste Theseus zurücktreten und ohne seine Geliebte nach Athen zurückkehren. Traurig und enttäuscht vergaß er die weißen Segel zu setzten. Sein Vater sah das Schiff mit schwarzen Segeln heimkehren und glaubte, sein geliebter Sohn sei umgekommen. Er sprang vom Kap Sounion ins Meer, welches seither das „Ägäische Meer“ heißt.

Die Deutung des Labyrinths ist vielschichtig. Die alten Griechen haben in ihren Mythen ewige Wahrheiten verankert. Da die Menschen zu jener Zeit, etwa 6000 Jahre vor Christus weder lesen noch schreiben konnten, wurden die Mythen von Generation zu Generation weitererzählt und auf diese Weise überliefert. Sie dienten als pädagogische Grundlage in der Erziehung. So finden wir auch im Labyrinthmythos einige Wahrheiten und Symbole: Das Labyrinth ist ein Ort, der für Leben, Tod und Wiedergeburt stehen kann. Es symbolisiert die Suche nach Lösungen für die eigenen Lebensthemen wie Trauer, Schmerz, Enttäuschung, Misserfolg u.ä. Daneben werden ganz vielfältige Symbole im Labyrinth erkannt, zu denen menschliche Gedärme (und damit Verdauung bzw. Verwandlung von Emotionen) gehören, Gehirn, Gegensätze fliessen hin und her, Verwirrung, Anfang und Ende, geheimes Wissen, unbekannte und unbewusste Zukunft, Angst, Suchen, Flexibilität, Einsamkeit und Übergänge. Das Labyrinth kann den Tod und das Sterben bewusst machen und damit den Menschen auf sein Schicksal vorbereiten. Die Mitte symbolisiert das Ende und gleichzeitig den neuen Ausgangspunkt. In das Labyrinth geht man aus Liebe und Leidenschaft zur Veränderung.

Damit kommen wir zum Höhepunkt in der Bedeutung des Labyrinths: Nur mit einem starken Ich und einem ausgeprägten Selbstbewusstsein k ö n n e n wir die Leere der Einsamkeit und die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten bewältigen. Theseus geht alleine in das Labyrinth, akzeptiert, dass er selbst der Minotaurus ist, bekämpft das eigene Ich (Ego), besiegt es und bringt auch den getöteten Minotaurus heraus, sowie den neuen Menschen, den veränderten Theseus, den sonnenbestrahlten Menschen. Die größte Lehre der kretischen Mysterien und Kultur war die delphische Weisheit: „Erkenne dich selbst“ (Γνῶθι σεαυτόν). Die Rückkehr ins Licht geschieht, wenn der Geist rechtzeitig mit Hilfe des Ariadnefadens reif dafür ist.

Wichtig zu erwähnen ist auch, dass das Labyrinth von der Bewegung und dem Tanz lebt. Pausanias schreibt im 2. Jahrhundert: „In Knossos zeigte man nicht die Spuren des minoischen Palastes, sondern den von Daedalus erbauten Tanzplatz aus weißem Stein.“ Pausanias, IX, 40, 3. Der älteste griechische Labyrinthtanz wurde „Geranos“ genannt, d.h. Kranichtanz, weil die Tanzenden einem Schwarm von Kranichen gleichen. Auf Delos tanzten die jungen Athener erstmals den Labyrinthtanz nach den Anweisungen der Ariadne, der Göttin des Todes und der Verwandlung.

Ich habe mit vielen Gruppen in verschiedenen Labyrinthen getanzt. Es war immer ein intensives, tiefes Erlebnis für alle. Zu Beginn gebe ich der Tanzgruppe oft folgende Empfehlung: Konzentration, Schweigen, Rückzug von der Aussenwelt. Jede(r) sollte sich ausschliesslich mit sich selbst beschäftigen, das eigene Ich betrachten und bewusst und kritisch wahrnehmen mit dem Anliegen der Veränderung und der Verwandlung. Eine Stunde lang und länger tanzen wir sodann alte, griechische Labyrinthtänze. Die Rückmeldungen sind positiv und spannend.

Es bleibt festzuhalten, dass wir weitaus mehr davon profitieren, uns selbst mit dem Anliegen der Veränderung und Verbesserung zu beobachten, als uns mit anderen Personen zu beschäftigen und über sie zu reden. Es ist das still werden und in die eigene Mitte kommen, das uns in Verbindung bringt mit uns selbst und Veränderung und Wachstum möglich macht, und uns neu und gestärkt aus der Mitte wieder hervorgehen lässt.

Welche Botschaft schickt Dir das Labyrinth?

Labyrinth-Fotos: Willi Schabmeyer

Tanzgattung