Seit fast 9 Jahren gibt es an der Tagesklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Herz Jesu Krankenhauses Dernbach/Deutschland eine Traumatherapiegruppe. Fester Bestandteil unseres Therapieprogramms ist meditativer Tanz (1x/Wo für 75 Min.), der von den PatientInnen gut angenommen wird. Viele der PatientInnen leiden unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
Die Definition der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS):
Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Flashbacks), Träumen oder Albträumen, sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Gewöhnlich tritt ein Zustand vegetativer Übererregtheit (Hyperarousal) mit Vigilanzsteigerung (Hypervigilanz), einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit auf. Angst und Depression sind häufig assoziiert.
Nicht selten ist die PTBS begleitet von Dissoziationen.
Der Begriff bezeichnet das (teilweise bis vollständige) Auseinanderfallen von psychischen Funktionen, die normalerweise zusammenhängen.
Bildlich gesprochen ist die Seele dieser Menschen „offline“.
Während meiner Psychotherapieweiterbildung lernte ich Hannelore und Ernst Eibach kennen, deren intensive Begegnung mit Bernhard Wosien die Basis für Integration des meditativen Tanzes mit seiner breiten Symbolik in die Psychotherapie war. Die Musikstücke in überwiegend adagio bzw. andante Tempo mit sich wiederholenden Schrittfolgen - einfach, gut erlernbar, gemeinsam praktizierbar - kommen dem Herzrhythmus des Menschen am nächsten.
Wie praktizieren wir meditativen Tanz in unserer Klink?
Jeden Tag gestaltet eine andere PatientIn die Mitte, damit alle eine optische Reorientierungshilfe haben. Die Körperpsychotherapieeinheit findet im Gruppenraum statt, gut gelüftet, die Stühle an den Rand gerückt. In einer Vorrede erfolgt die Erklärung, dass die Übungen mit Musik dazu gedacht sind, um Stress abzubauen, Anspannung zu reduzieren, im Hier und Jetzt zu bleiben. Es gilt herauszufinden, ob diese Übungen Spaß machen oder sich neutral anfühlen, nur dann sollten sie mitgemacht werden. Wenn sie unangenehm sind, kann in der Zeit eigenständig eine andere Übung praktiziert werden. Falls es zu anstrengend oder die Musik unangenehm ist, darf und soll ein anderer Raum aufgesucht werden, um dort eine eigene Übung zu praktizieren, nach 3 - 5 Min. wieder zu kommen. Eine Begleitung der Co-Therapeutin kann erbeten werden oder erfolgt unsererseits nach Einschätzung der Situation. Hilfreich ist die Erklärung, dass es gilt, die individuell passende Übung herauszufinden. Es erfolgt auch die Aufforderung, sich nicht gegenseitig zu beobachten, damit in Ruhe ausprobiert werden kann. Wer Anregungen möchte, kann dies bei den Mitarbeiterinnen abschauen. Zusätzlich besteht das Angebot, die Bewegungen in Schuhen, Strümpfen oder barfuß zu praktizieren, ggf. es auch zuhause auszuprobieren. Wichtig ist auch, dass zuvor alle geprüft haben, dass der Abstand zu den Nachbarn stimmt. Angefasst wird nicht.
Hilfreich ist, dass die Therapeutin die Bewegungen zunächst vorführt und sich dann mit bewegt. Damit können die Bewegungen und Körperreaktionen berechenbar werden. Das Sehen der eigenen Bewegung in den spiegelnden Bewegungen der Therapeutin, das gemeinsame Tun sowie die Entwicklung weiterer Kommunikationsmöglichkeiten durch die Sensibilisierung der sensorischen, perzeptuellen und kinästhetischen Kanäle ermöglichen andere belastungsfreie Beziehungsaufnahme.
Neben der Bewegung - überwiegend in Seitwärtsbewegungen - wird ein inneres Bild im Sinne einer Mini-Imagination vorgeschlagen.
Nach jeder Einheit wird eine kurze Pause eingelegt mit der Anregung nachzuspüren, wo im Körper sich was und wie geändert hat.
Ziel ist es, die PatientInnen in Bewegung zu bringen, sie aus der Erstarrung zu führen, Alternativen zu alten Bewegungsmustern anzubieten, den inneren und äußeren dreidimensionalen Raum zu erleben und wieder einzunehmen, Stress und Anspannung zu reduzieren, sowie einen freudvollen neuen Zugang zum Körper zu erreichen.
So auch die Beobachtungen, die durch unsere Wirksamkeitsstudie belegt wurden. Stress, Anspannung und Dissoziation konnten in hohem Maße beeinflusst werden, sodass 90 % der PatientInnen den meditativen Tanz als Selbstregulationstechnik für sich übernehmen.
Physiologie der PTBS
Das Alarmzentrum des Gehirns läuft auf Hochtouren und generiert Angst. Es gibt Bereiche, deren Veränderung zu reduzierter Aufmerksamkeit, Gefühlstaubheit, reduzierter Selbstregulation, Generierung der belastenden Lebenserinnerung in Form von Bildern und Filmen führen. Die Kommunikation von Gehirn zu Körper und umgekehrt verschlechtert sich. Die Vernetzung der Gehirnreale untereinander fährt fest. Die Anspannung ist erhöht. Der Stress schüttet Cortisol aus, was wiederum das Areal des Gedächtnisses beeinträchtigt. Die Nervenwachstumsfaktoren, die für Regeneration von Gehirnzellen zuständig sind, sind reduziert, ebenso das Serotonin, das für die Begleitdepression zuständig ist.
In der Literatur gibt es zahlreiche Hinweise wie und wo z.B. Meditation, Musik, Bewegung, Tanz und Imagination - alles Bestandteile des meditativen Tanzes - auf die Hirnphysiologie Einfluss nehmen.
Wie wirkt Meditation?
Für Meditation ist nachgewiesen, dass sie das Alarmzentrum beruhigt, Ängste reduziert, die Aufmerksamkeit und Selbstregulation verbessert, den Cortisolspiegel senkt und damit die Gedächtnisfähigkeit steigt. Die Regenerationskräfte verbessern sich und die Vernetzung im Gehirn.
Wie wirkt Musik?
- Melodien aktivieren beide Gehirnhemisphären gleichermaßen, wobei Harmonie die linke Hemisphäre intensiviert, wovon auch schon Pythagoras überzeugt war.
- Der aufrechte Gang erfordert einen inneren Rhythmus, der durch Musik gestärkt wird. Um dies zu erreichen, bedarf es einer guten Vernetzung.
- Muskelanspannung reduziert sich. Wir kennen die Wirkung von Musik z.B. bei Operationen und Studien belegen den Rückgang des Cortisolspiegels.
- Die Wachstumshormone nehmen zu und damit die Plastizität des Gehirns.
- Oxytocin als neurochemisches Korrelat musikbasierter Bindungsvorgänge nimmt eine entscheidende Rolle ein.
Wie wirkt Bewegung?
Ein Urgestein der Traumaforschung, Bessel Van der Kolk, belegte die Wirksamkeit von Bewegung und Tanz auf die Stärkung der Bottom-up Regulation und zur Reduktion von Anspannung.
Die Nervenwachstumsfaktoren der Gehirnzellen zur Regeneration steigen an, das Serotonin ebenso. Cortisol wird reduziert und die Vernetzung im Gehirn verbessert sich.
Wie wirkt Tanz?
Neben den für die Bewegung benannten Veränderungen kommen folgende hinzu:
- Über Veränderung körperlicher Rhythmen verbunden mit Musik kommen die PatientInnen emotional in innere Balance, die Angst wird herunter reguliert.
- Selbstwirksamkeit verbessert sich.
- Gezielt eingesetzte Bewegungen nach Choreografien stärken die Top-down Regulation. Über Tanz aktiviert sich die rechte Körperhälfte und ermöglicht damit Zugang zum Körperselbst.
- Nicht umsonst sprechen wir bei Sprache auch von Melodie, die mit Gesten unterlegt wird. Das Broca Zentrum (Sprachzentrum) ist wichtig für generelle motorische Aktivität, und damit auch darüber aktivierbar.
- Dort wo die Sprache nicht mehr hinreicht, beginnt der Tanz (Wosien). Es zeigte sich, dass zunächst die Hirnregionen durch Tanz aktiviert werden, die dem verbalen Ausdruck nicht zugänglich sind. Dies aktiviert -in weiterer Folge - auch das Sprach-Zentrum.
- Beim Tanz steht die Propriozeption (d. h. die Wahrnehmung des eigenen Körpers nach dessen Lage im Raum, den Stellungen von Kopf, Rumpf und Gliedmaßen zueinander, so wie Spannung, Kraft und Geschwindigkeit) explizit im Zentrum. Damit haben wir einen Zugang zur Interozeption (= beschreibt die Wahrnehmung körperinterner Signale und deren Verarbeitung).
- Das gemeinsame Bewegen in der Gruppe synchronisiert die Tanzenden nicht nur in der Bewegung, sondern auch emotional. Über die Spiegelneurone wird das gesamte neuronale Netzwerk von Interozeption, Körperschema und Emotion aktiviert.
Wie wirkt Imagination?
Imaginationen sind Regungen des Erlebens, Leibregungen. Es entsteht eine Wechselwirkung zwischen Ausdruck und innerem Bild.
Bei der Top-down Arbeit gehen wir von einer Imagination aus und versuchen diese körperlich zu empfinden und umzusetzen.
Bei der Bottom-up Arbeit gehen wir von einer körperlichen Empfindung aus und lassen daraus ein Bild entstehen.
Fazit:
Im Effekt bedeutet dies für TraumapatientInnen, die meditativen Tanz praktizieren:
- Serotonin steigt, führt zu Stimmungsaufhellung und Rückgang der Depression.
- Gezielte Bewegung fördert die skeletomuskuläre Kontrolle, löst die Erstarrung und führt unmittelbar zur Steigerung der Emotionsregulierung.
- Die Vernetzung im Gehirn verbessert sich und hilft bei der Selbstregulierung ins Toleranzfenster der eigenen Handlungsfähigkeit.
- Cortisol wird runter reguliert
- Der zentrale Motor der Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung wird unmittelbar „abgekühlt“. Angst und Schreckreaktion werden vermindert.
- Selbstwirksamkeitserleben wird gesteigert.
- Wir erreichen die PatientInnen auf mehreren Sinneskanälen: Hören, Sehen und Bewegung.
- Insgesamt zeigt sich eine positive Veränderung in 23 Bereichen der Neurophysiologie und Neuropsychoimmunologie, bei vielen gibt es Synergieeffekte.
Somit ist es nicht verwunderlich, dass unsere PatientInnen zu 90 % den meditativen Tanz als Technik der Selbstregulation übernehmen.
Schließen möchte ich mit einem treffenden Gedicht von Hilde Domin:
Nicht müde werden,
sondern
dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten
Wer noch mehr zu diesem Thema erfahren möchte, für den habe ich eine Literaturliste zusammengestellt.
Alle Bilder - von mir angefertigt - zeigen von PatientInnen gestaltete Mitten.
Dr. Margarethe Philipp
Tagesklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Südring 8
56428 Dernbach
+49 2602 684 123
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