Ein Erlebnisbericht von Bernhard Wosien (1908-1986)
Um die Jahreswende 1967/68 wurde ich durch meine Tochter in einem auf achtzehn Tage befristeten Intensiv-Kurs in die Technik und das Wesen des Drehtanzes der Mevlevi eingeführt. Von dem Reigen der Derwische hatte ich bis dahin nur eine vage Vorstellung. Erst jetzt erfuhr ich von seiner Bedeutung und seinem ehrwürdigen Alter als kultisches Geschehen.
Von Jugend auf war ich als Tänzer und Choreograph mit dem klassischen Exercice des europäischen Balletts vertraut. Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass der Tanz in Verbindung mit Klang und Rhythmus für uns Menschen ein Medium darstellt, die geistige Welt unmittelbar zu erleben. Indes ist in unserem christlichen Gottesdienst keine Tradition erhalten, geschweige denn gepflegt worden, die ein getanztes Ritual zuließe. Meine Phantasie erfand diesen Umstand immer als ausgesprochenen Mangel. Daher sah ich erwartungsvoll diesem Kurs entgegen, der mich in die Vorbereitungsarbeit einführen sollte, welcher sich die Novizen der tanzenden Derwische unterziehen müssen, damit sie später den enormen Anforderungen eines Mukabele gewachsen sind.
Bereits in der ersten Stunde wurde es mir klar, dass ich mit meinen technischen Voraussetzungen als Tanzmeister der europäischen Überlieferung herzlich wenig anfangen konnte. Die Art, im Derwischtanz zu drehen, war etwas völlig Neues. Nämlich: Das ostinate Drehmoment auf der flach aufgesetzten Sohle des linken Fußes – in entgegen gesetzter Richtung zum Uhrzeiger – wobei das rechte Bein im Spiralansatz über das linke Standbein, das somit die Drehachse bildet, hinüber greift, ist im Vokabular der klassischen Technik nicht zu finden. Auf diese Art wird der ganze Körper zu Umdrehungen von beliebiger Zahl veranlasst.
Die erste Woche war hart und mit Schmerzen verbunden. Auf der Mitte einer größeren Holzfaserplatte war ein Messingnagel angebracht. Ich musste ihn zwischen den großen und nächsten Zeh des linken Fußes fassen und die Fußsohle in ständiger, oben beschriebener Weise rotieren lassen. Der anspornende Zuruf meiner Tochter, die mit freundlicher Energie die Übungen leitete, half mir über manchen toten Punkt hinweg.
Die ersten Tage waren eine harte Probe meiner Durchhaltekräfte, aber bald fühlte ich jene erstrebte Linie, die sich vom Fuß durch den ganzen Körper bis zum Kopf erstrecken soll. Durch das gleichmäßige Spiel der Beine während der Drehung um diese Mittelachse schienen sich zwei Spiralen um dieselbe auf- und abzuwinden. Ich erlebte einen Wechsel von Schließen und Öffnen, von Geben und Nehmen, von einwärts und auswärts. Dieser Prozess rief mich ständig zu höchster Aktivität und Bewusstheit auf, obgleich das ununterbrochene Kreisen mich andererseits zu einem Verströmen in das Nichtwissen mit derselben Kraft hinüberrief. Diese Spannung zwischen Verströmen und Sammlung, zwischen Hingabe und Kontrolle, zwischen Dynamik und Statik durchzuhalten, führte zeitweise zu so kritischen Augenblicken, dass man «drei Tode» zu sterben glaubte.
Auszug aus dem Buch „Die Sufis und das Gebet in Bewegung“
Metanoia-Verlag, Auflage 2006, © Maria-Gabriele Wosien 1998
ISBN 3-907038-56-2
Weiterlesen? - der gesamte Artikel samt den zugehörigen Grafiken von Bernhard Wosien befindet sich im Dateianhang
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