Erinnerungen an Mira Michajlowna Koltsowa (1938-2022)

In 1977 lernte ich Mira Koltsowa im Rotterdamer Stadttheater kennen. Im Proberaum des Theaters hatten wir eine Probe mit dem Penta-Theater, wo ich zu der Zeit als Tänzer arbeitete. In der Pause ging ich mit einigen Kollegen zum Foyer der Artisten, und auf dem Weg dorthin stellte sich heraus, dass der Bus mit Berjoskas TänzerInnen gerade angekommen war. An diesem Abend sollte Berjoska im Rotterdamer Theater auftreten.

Als ich 1964 im zweiten Studienjahr an der Rotterdamer Tanzakademie war, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Aufführung von Berjoska im Rotterdamer Stadttheater. Ich war damals tief beeindruckt von dieser Darbietung. Die Perfektion, die schönen lyrischen Tänze der Mädchen, die Bravour, mit der die Jungen tanzten, die spektakulären Hockeschritte und Sprünge, die sie zeigten, die Musik... mit einem Wort fand ich es fantastisch.

Bereits hatte ich eine Eintrittskarte für die Abendvorstellung in 1977 gekauft. Natürlich war ich sehr gespannt und hätte gerne eine Bühnenprobe von Berjoska besucht. Die erste Person, mit der ich auf dem Flur des Theaters zusammenstieß, war Mira Koltsowa. Sie fragte mich auf Französisch, wo der Ausgang nach draußen sei. Ich antwortete ihr auf Russisch, was sie angenehm überraschte. Ich fragte sie sofort, ob es eine Bühnenprobe gäbe und ob ich dabei sein könnte. Das war überhaupt kein Problem. Ich erzählte ihr, dass ich ein Tänzer sei, ein Kind mit einer russischen Mutter und den russischen Tanz sehr liebe. In jenen Jahren leitete ich noch das Rotterdamer Ensemble Kalinka und natürlich zeigte ich ihr Werbefotomaterial von Kalinka.

Diese erste Bekanntschaft mit Mira Koltsowa führte schließlich zu einer Freundschaft. Sie hatte mir ihre Moskauer Telefonnummer gegeben mit der Bemerkung, ich solle mich melden, wenn ich in Moskau sein würde. Immer wenn ich in Moskau war, habe ich sie in Berjoskas Studio besucht, und auch als Berjoska in den Niederlanden auf Tournee war, haben wir uns getroffen.

Mädchenfrühling_Koltsowa

Mira Koltsowa wurde 1957 als Tänzerin bei Berjoska angestellt. Das Berjoska Tanzensemble wurde 1948 von Nadjezhda Sergejewna Nadjeschdina gegründet, zunächst als Frauentanzensemble. Zehn Jahre nach seiner Gründung wurde Berjoska durch männliche Tänzer und ein Orchester mit Volksinstrumenten erweitert. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1979 war Nadjeschdina künstlerische Leiterin und einzige Choreografin.

Mira Koltsowa war bald zur führenden Solistin bei Berjoska befördert worden. Nachdem sie 20 Jahre lang als Tänzerin gearbeitet hatte, wurde sie Nadjezhdina's Assistentin und Probeleiterin. Im Jahr 1979 starb Nadjezhdina. Vor ihrem Tod hatte sie die Zukunft ihres Tanzensembles durch die Berufung von Mira Koltsowa als stellvertretende künstlerische Leiterin gesichert. Mira Koltsowa sicherte sich nicht nur das Repertoire von Nadjeschdina, sondern schuf in den 1980er Jahren auch ihre ersten eigenen Choreografien, die im Geiste ihrer Vorgängerin waren.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion brachen für Berjoska schwierige Zeiten an. Mira Koltsowa war damals die künstlerische Leiterin von Berjoska, und sie hatte in diesen chaotischen Jahren sicher viele schlaflose Nächte. Sie musste die wunderschöne Unterkunft von Berjoska in einem historischen Klosterkomplex in der Petrovka-Straße im Zentrum von Moskau verlassen. Die russisch-orthodoxe Kirche erhielt alle ihre ursprünglichen vorrevolutionären Grundstücke zurück, und Berjoska wurde in einem Kulturhaus am äußeren Stadtrand von Moskau untergebracht. In diesen chaotischen Jahren nach 1991 war die Zukunft von Berjoska sehr ungewiss. Früher wurden Tourneen ins Ausland als kulturelle Visitenkarte der Sowjetunion vom Staat finanziell unterstützt, und diese Unterstützung war in diesen Jahren weggefallen. Selbst die Gehälter für die TänzerIinnen wurden damals nicht ausgezahlt. Es gab auch kaum noch Auftritte in Russland. Die Tänzerinnen und Tänzer suchten damals bezahlte Arbeit in Restaurants in der Türkei, oder in Moskauer Kasinos.

 

Tanzprobe_Koltsowa

Als ich Mira Koltsowa 1992 besuchte, bat sie mich, ob ich nicht eine Tournee für Berjoska in den Niederlanden organisieren könnte. Die Organisation von etwas so Großem erfordert Fachkenntnisse, die ich nicht habe. Alles, was ich für Berjoska tun konnte, war, ihren Proberaum mit TeilnehmerInnen meiner Tanzreisen nach Moskau zu besuchen. Dort hat Mira Koltsowa dann eine Präsentation einiger Choreographien in Kostümen in ihrem Proberaum organisiert, und die TeilnehmerInnen dieser Tanzreisen bekamen einen Einblick in ein solch weltberühmtes Tanzensemble. Unter Putin brachen für Berjoska bessere Zeiten an. Das Ensemble erhielt neue Räumlichkeiten und wurde wieder zu einer wichtigen künstlerischen Visitenkarte Russlands. So wie Nadjeschdina damals mit Mira Koltsowa eine Nachfolgerin bestimmt hatte, hat auch sie eine Assistentin, die das Ensemble leiten soll. Es ist Jelena Grischkowa, die sich als Tänzerin bei Berjoska etablierte und später zur ersten Assistentin von Mira Koltsowa aufstieg.

 

Wenn man auf Mira Koltsowas Leben zurückblickt, kann man mit Recht sagen, dass ihr Leben erfolgreich und turbulent war. Ihre Tätigkeit bei Berjoska umfasst 65 Jahre. Ihr Debüt als Tänzerin gab sie in Paris, wo sie mit Berjoska im Theatre Sarah Bernard auftrat. Bald wurde sie eine führende Solistin bei Berjoska und spielte 1960 die Hauptrolle in Koltsowadem Spielfilm Djewitscha Wesna (Mädchenfrühling). In diesem Film wurde auch ihre Gesangskompetenz genutzt. Nadjeschdina schuf Choreografien, in denen Mira tanzte und auch sang. In diesen früheren Jahren wurde noch keine Mikrofone benutzt. Auch heute noch werden Berjoskas Choreografien aufgeführt, auch solche, die gesungene Teile enthalten. Aber ein professioneller Sängerin befindet sich heute im Orchestergraben und wird, so wie alle Musikinstrumente, mit Mikrofonen verstärkt. Die Tänzerin auf der Bühne macht Playback dazu.

Nach 1995 ging mein Kontakt zu Mira Koltsowa allmählich verloren. Für die gemeinsam mit Choretaki geplante Tanz- und Kulturreise, die im Jahr 2021 stattfinden sollte, habe ich sie erneut kontaktiert, um zu fragen, ob ich mit meiner Reisegruppe an einer Probe bei Berjoska beiwohnen kann. Diese Reise wurde jedoch wegen der Korona-Maßnahmen abgesagt. Hätte uns Korona damals nicht gestört, hätte ich Mira Koltsowa vielleicht nach all den Jahren wiedersehen können. Es hat nicht sollen sein.

Am 3. August 2022 wurde Mira Koltsowa auf dem Friedhof des Nowodewitschi-Klosters in Moskau beigesetzt.

 

Text und Fotos: Hennie Konings im September 2022

Foto1: aus dem Spielfilm Djewitscha wesnja (Mädchenfrühling)

Foto2: hier sitze ich im Vordergrund neben Mira Koltsowa und beobachte, wie sie die Probe leitet. Neben ihr steht der Probenleiter Viktor Baborikin, der mit den männlichen Tänzern arbeitete.

Foto3: Ein Plakat, auf dem Mira Koltsowa zum letzten Mal als Tänzerin im Kostüm zu sehen ist. Das Bild wurde anlässlich ihres 20-jährigen Jubiläums als Tänzerin aufgenommen und es wurde eine Jubiläumsvorstellung organisiert, bei der sie zum letzten Mal als Tänzerin auftrat. Von den drei jungen Tänzern rechts auf dem Foto ist der ganz rechts Sascha Gurvin und daneben Sascha Klimov, beides Freunde von mir. Bei dem großen weißen Gebäude im Hintergrund handelt es sich um das Hotel Rossia, das einst als das prestigeträchtigste und größte Hotel der Sowjetunion gebaut wurde und heute längst abgerissen ist.