Eines der hervorragenden
Medien schöpferischer Pädagogik ist der Tanz. In unserer Industrie- und
Leistungsgesellschaft ist Erziehung heute mehr und mehr eine
Verhaltenskonditionierung, welche die Entfaltung und Selbstverwirklichung des
einzelnen nur ungenügend ermöglicht. Der Mensch hat sich im Weltbild der Naturwissenschaften eine
logisch rationale, messbare Welt gebaut.

So grossartig die
Errungenschaften dieser Lehren auch sind, so einseitig sind sie. Das Messbare und
Funktionelle besitzt einen Gegenpol: das Unmessbare. Beides aber gehört zum
Menschen.

Als Zeitgenossen einer hoch
gezüchteten Gesellschaft eines so genannten wissenschaftlichen Bildungssystems
leiden wir alle unter dem Gespaltensein, dem Verlust der Einheit. Geist, Leib und
Seele schwingen nicht mehr zusammen. Zwischen Vernunft und Gewissen besteht ein
gefährliches Ungleichgewicht.

Unsere menschlichen
Fähigkeiten haben wir in hohem Masse an die Prothesen unseres Geistes, an
Maschinen übertragen. Das Drücken eines Knopfes genügt! Dies sollte unseren
Lebensbereich erweitern und bereichern, jedoch Wunscherfüllung und
Zufriedenheit wollen sich nicht einstellen. Dagegen treten Überforderung,
Stress, Lebenskrisen, Neurosen, Krankheiten der Seele und Suizide in steigendem
Masse auf.

Leben ist Bewegung. Wo
Bewegungsfunktionen gestört sind, werden sich Auswirkungen auf das
Lebensverhalten zeigen und umgekehrt. Es ist eine Tatsache, dass bei fast allen
klinisch psychiatrischen Fällen, mag es sich um psychogene oder milieubedingte Verhaltensstörungen
handeln, oder seien es somatisch bedingte Beeinträchtigungen, sich mehr
oder minder starke Störungen der Bewegungsfunktionen und des Bewegungsablaufes
feststellen lassen.

Ich habe in langjähriger
Zusammenarbeit mit Sonderschulpädagogen, Psychiatern und Heilpädagogen an der
«Heckscher Klinik» in München und an der «Abteilung für Sonderschulpädagogik»
an der Philipps-Universität in Marburg/Lahn die Erfahrung gemacht, dass der
Tanz in besonderem Masse heilpädagogische und therapeutische Bedeutung hat.

Man weiss heute auch um die Wechselbeziehung
und den Zusammenhang von Bewegungsfunktionen und den psychophysischen Funktionen.
Wir kennen in der Heilpädagogik die häufig auftretenden Störungen bei Kindern und
Erwachsenen, denen eine Befriedigung des Bewegungsbedürfnisses nicht ermöglicht
wurde. Es sind oft schwerwiegende Störungen in der Entfaltung der
Gesamtentwicklung körperlicher und geistiger Regungen (Dysmelie,
«Pferchungsschäden», Hospitalismus, Hemmungen und Ängste, Kontaktschwierigkeiten
usw.).

Hier bietet sich der Tanz als
sehr wirksamer Erziehungsbereich an, der besonders von Jugendlichen angestrebt
und angenommen wird. Dass der Tanz den ganzen Menschen erzieht, hat man heute
weithin erkannt und setzt ihn bereits vielerorts als funktionales
Erziehungsmittel ein. Er verlangt Anpassung und Einordnung, schafft Ausgleich
und Befreiung, beflügelt die Phantasie, entspannt und lockert und bietet eine
Ebene, von der aus man in die Vielseitigkeit der Bildung eingehen kann.

Eine harmonische Ausbildung
der Persönlichkeit verlangt auch eine positive Gemeinschaftsbezogenheit. Ein
junger Mensch, der noch zu sich selbst finden muss, erarbeitet sich noch die
Voraussetzungen, die ihn gemeinschaftsfähig machen. Andererseits wirkt Gemeinschaftsfähigkeit selbst wieder auf die innere
Harmonie des einzelnen zurück und beeinflusst
diese in positivem Sinne. Für dieses
Zu-sich-selbst-Finden ebenso wie für das Zur-Gemeinschaft-Finden bietet der
Tanz sich an als ideales Medium der Pädagogik.
Als Pädagoge hat man seine eigene Problematik, wenn
man sich als «Detachierter» einer versessenen Gesellschaft fühlt und dennoch eine echte Begegnung mit den
Menschen üben will.

Allein beim Tanz scheint die trotzige Auflehnung
gegen das Traditionelle bei den Jugendlichen auszubleiben. Das Spiel der Spiele
provoziert den Sinn für Regel, Gesetz und Ordnung und Gleichgewicht. Der dabei
vergossene Schweiss ist mir immer wieder genügend Beweis für die echte
Intensität und Begeisterung, mit welcher die Studierenden des Tanzes an diesen
Kursen teilnehmen. Der Tanz bietet, im rechten Sinn pädagogisch eingesetzt, die
Entwicklung von Bewegung, Bewegungsspielraum, Rhythmus, Ordnung, Musik- und
Bewegungsausdruck, Raumbezogenheit, Ich- und Partnerbezogenheit und
Gemeinschaftsbezogenheit auf gehobener Seinsebene. Ein Tun also, nicht im
gebräuchlichen Sinn zweckgebunden, sondern sinnerfüllt und dem Alltäglichen enthoben
im Sinne des Festlichen und damit hinlenkend zum eigentlichen Selbstsein.

Der Tanzlehrer sollte es grundsätzlich
vermeiden, seine Tänze «mit dem Buch im Kopfe» beizubringen. Musik, Choreografie
und Unterrichtssprache sollten eine Einheit bilden, denn im Sinne einer Aktion
ist der Tanz weniger Pädagogik (als wissenschaftliche Disziplin), sondern
bereits Menschenbildung.

Die Freude am gemeinsamen beschwingten
Miteinander hat hier Vorrang. Während die Wissenschaft auf Feststellung zielt, sucht
der Tänzer die lebendige Bewegung. Gerade hierfür eignen sich ganz besonders
die europäischen Reigen und Gruppentänze als Modelle für die
Gemeinschaftsbeziehung. In diesen elementaren existentiellen Tanzformen setzt
sich der Mensch mit seinen eigenen konflikt- und spannungsträchtigen Trieb- und
Bedürfnispotenzen und Beziehungsintentionen auseinander.

Diese sucht er tanzend auszuagieren, auszutragen
und auszudrücken. Hierdurch versucht er sich zu entspannen und einzuordnen. Einer
Gesellschaft sollte es aber ein Anliegen sein, persönlichkeitsbildende Faktoren
zu fördern und schöpferisch mitgestaltende Menschen zu erziehen. Der Tanz ist
solch ein Angebot.

Wo Menschen miteinander tanzen, erziehen
und bilden sie sich selbst.

 

Bernhard Wosien
in "Der Weg des Tänzers - Selbsterfahrung durch Bewegung", Jubläumsausgabe 2008, herausgegeben von Maria-Gabriele Wosien zum 100. Geburtstag ihres Vaters, Metanoia Verlag, Bergdietikon Schweiz, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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